Der Bundesrat gibt auf
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Rahmenabkommen mit der EU
Der Bundesrat gibt auf

Abschuss statt Abschluss: Beim Vertragswerk mit Brüssel geht es nur noch darum, wer ihm den Todesstoss versetzt – womöglich die Regierung selber, wie sich jetzt abzeichnet. Das Manöver wäre historisch.
Publiziert: 21.03.2021 um 00:26 Uhr
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Aktualisiert: 23.11.2022 um 17:41 Uhr
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Diese Woche vor der Wandelhalle des Bundeshauses. Es kommt zu einer spontanen Diskussion über die Europapolitik. Argumente prallen aufeinander. Irgendwann stampft eine beteiligte Nationalrätin auf den Boden und ruft: «Fick dich, EU!»

Das ist nicht die gängige Wortwahl von Parlamentarierinnen und Parlamentariern. Aber der Satz drückt die momentan vorherrschende Stimmung in Bundesbern gegenüber der Europäischen Union vielleicht am besten aus. Das institutionelle Rahmenabkommen mit Brüssel (Insta) gilt als politisch tot.

Dass Projekte scheitern, gehört dazu. Aussergewöhnlich, ja historisch wäre allerdings die Art und Weise, wie das Insta nun zu sterben droht – durch die Landesregierung selber. Durch jene Institution also, die während sieben Jahren Verhandlungen und zweier Jahrzehnte innenpolitischer Diskussion federführend in der Verantwortung stand.

Offizielles Bundesratsfoto: In der Regierung gibt es keine Mehrheit mehr für ein Rahmenabkommen.
Foto: keystone-sda.ch
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Katzenjammer beim Wirtschaftsdachverband

Für schweizerische Verhältnisse hat das die Dimension eines veritablen Politcoups: Während die Gegner all die Jahre die angebliche Chancenlosigkeit beim Volk herbeiredeten und von einer epischen Abstimmungsschlacht raunten, die noch kommen werde, könnte die Angelegenheit nun per Handstreich im Siebnergremium erledigt werden. Wohl ohne Mitsprache des Parlaments, geschweige denn der Bevölkerung. Die verhandlungsführende Partei kapituliert. Alle Zeichen deuten derzeit darauf hin.

Bei Economiesuisse herrscht Katzenjammer. Die Spitze des Wirtschaftsdachverbands hat nach intensiven Gesprächen mit Bundesratsmitgliedern in den letzten Wochen die Hoffnung aufgegeben. Man bangt um den ungehinderten Marktzugang für Schweizer Exportfirmen. Freude verspürt nur jenes kleine Grüpplein im Vorstandsausschuss, das zu den Insta-Gegnern zählt.

«Positionen liegen zu weit auseinander»

Ein Menetekel war die plötzliche Funkstille aus Bern. Economiesuisse, deren Vorgängerorganisation Vorort einst als achter Bundesrat bezeichnet wurde, verfügt während Verhandlungen von wirtschaftspolitischen Verträgen über eine Standleitung in die Verwaltung. Beim Insta jedoch begannen die Signale allmählich auszubleiben. «Wir ahnten, dass das nichts Gutes bedeutet», sagt ein ranghoher Economiesuisse-Vertreter.

Ein weiteres untrügliches Zeichen war ein Artikel in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 11. März. «Ein Übungsabbruch rückt näher», verkündete das freisinnige Blatt. Eine langjährige «NZZ»-Verwaltungsrätin sitzt heute im Bundesrat: Justizministerin Karin Keller-Sutter. Sie spielt eine Schlüsselrolle. Mit verblüffender Nonchalance weist die Ostschweizerin ihre Gesprächspartner darauf hin, wie unrealistisch eine Einigung beim Insta sei. Das hat sich auch nach dem vergangenen Mittwoch nicht geändert, als der Europaausschuss des Bundesrats zusammentraf, dem neben Keller-Sutter EDA-Vorsteher Ignazio Cassis und Bundespräsident Guy Parmelin angehören.

Ein Insider aus dem Finanzdepartement formuliert es so: «Wenn die Regierung heute entscheiden müsste, dann würde sie aufgeben.» Diplomaten reden intern aber nicht von «Abbruch», sondern von «Freeze», englisch für Einfrieren. «Die Positionen liegen zu weit auseinander», sagte ein Bundesratsmitglied am Donnerstag gegenüber SonntagsBlick.

Boris Johnson verhandelte persönlich mit

Es gehe nur noch um die Frage, wie – und wann – man gegenüber der EU möglichst gesichtswahrend zum Rückzug blasen kann. Und Cassis fragt gemäss CH Media bereits «Gäste» um Rat, wie das Insta am besten zu beerdigen sei. Eine nochmalige Vernehmlassung zum Thema wäre theoretisch zwar denkbar, aber hätte Potenzial zum nächsten Fasnachtssujet.

Mit viel Geduld in Brüssel ist sowieso nicht mehr zu rechnen. Zu lange spielte der Bundesrat auf Zeit. Selbst nach dem wuchtigen Nein zur SVP-Begrenzungs-Initiative im September 2020 wurde der Schwung nicht genutzt – stattdessen wechselte Aussenminister Cassis den Unterhändler aus. Und Keller-Sutter stellte im BLICK schon im Vorfeld klar: «Ein Nein zur Begrenzungs-Initiative ist kein Ja zum Rahmenabkommen!»

Beim Endspurt um den Brexitvertrag war Boris Johnson bis zum Durchbruch in der Nacht vom 24. Dezember selber dabei; der britische Premier schaltete sich für den Deal persönlich ein. Die Bürgerinnen und Bürger kriegen so was mit.

Alain Berset hingegen war als Bundespräsident 2018 nicht ein einziges Mal in Brüssel zugegen, als die Verhandlungen über das Insta auf der Zielgeraden waren. Und Kollege Cassis versteckt sich lieber hinter seinen Diplomaten.

Fünf Bundesräte als Totengräber

«Es gibt genau einen, der für die jetzige Misere verantwortlich ist: der Bundesrat», sagt ein konsterniertes Economiesuisse-Vorstandsmitglied.

Als Totengräber des Insta werden die Namen von fünf Bundesratsmitgliedern herumgereicht: Karin Keller-Sutter, die SVP-Vertreter Ueli Maurer und Guy Parmelin – sowie die beiden Sozialdemokraten Simonetta Sommaruga und Alain Berset.

Keller-Sutter äusserte sich schon vor ihrer Wahl in die Regierung stets Insta-kritisch und tönte zuweilen wie eine Gewerkschafterin, wenn sie über den Lohnschutz und die Unionsbürgerrichtlinie redete.

Die beiden Genossen hingegen schweigen eisern bei diesem Dossier. Die sonst so sendungsbewusste Sommaruga mutiert zur rätselhaften Sphinx, wenn es um Europapolitik geht. Dafür ist ihr enger politischer Wegbegleiter, der ehemalige SP-Nationalrat Rudolf Strahm, umso offener. Strahm, der in seinem Leben schon EWR-Beitrittsverhinderer und EU-Beitrittsbefürworter war, ist heute entschiedener Insta-Gegner. Im SRF-«Club» vom 9. März legte er die Beweggründe der Linken mit entwaffnender Ehrlichkeit dar: Im Vordergrund stehen demnach nicht materielle Erwägungen, sondern politische. Eine Debatte über das Rahmenabkommen, befürchtet Strahm, würde die Sozialdemokratie schlicht zerreissen. Als abschreckendes Beispiel nannte er in der Talkshow die deutsche SPD, die nach den Sozialreformen der Agenda 2010 unter dem ehemaligen Kanzler Gerhard Schröder in der Wählergunst abstürzte.

«Ein unwürdiges Schwarzpeterspiel»

Nun sind die sieben Magistraten in Bern keine Dilettanten: Sie würden den Todesstoss natürlich nicht gegen den Willen ihrer eigenen Fraktionen vollziehen. Im Bundeshaus kursiert die Erzählung über das Von-Wattenwyl-Gespräch vom 5. Februar: Dabei sollen die Spitzen von SP, Die Mitte und FDP ihre Bundesräte darauf gedrängt haben, die Entscheidung über das Abkommen bitteschön nicht aufs Parlament abzuwälzen.

Man kann das wohlwollend interpretieren: Die Parteien nehmen den Bundesrat in die Pflicht und ringen der glaubwürdigsten Institution des Landes ein Bekenntnis ab. Man kann die Intervention aber auch böswillig lesen: Das Parlament gibt aus Mutlosigkeit das Heft aus der Hand – es kastriert sich selber. Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

Fest steht: Sollte das umstrittene Vertragswerk bereits im Bundesrat erlöst werden, bleiben nicht nur die Sozialdemokraten, sondern auch der Freisinn und Die Mitte vor aufreibenden Flügelkämpfen verschont.

Zu den eifrigsten Befürwortern des Rahmenvertrags zählt FDP-Nationalrätin Christa Markwalder. Sie redet von einem «unwürdigen Schwarzpeterspiel» innerhalb des Bundesrats. Es wäre für sie der «aussen- und wirtschaftspolitische Super-GAU», wenn das Abkommen bereits im Bundesrat scheitern sollte. «Für das internationale Ansehen und die Glaubwürdigkeit unserer Regierung als Vertragspartner wäre das ein verheerendes Signal», sagt sie. «Wer will mit einem Land noch Abkommen aushandeln, dessen Regierung nach jahrelangen Verhandlungen den Vertrag abschiesst? Gerade in der aktuellen Krise setzt der Bundesrat unnötig Arbeitsplätze aufs Spiel.»

Dringlicher Appell an den Bundesrat

Als Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik hat sie vergangene Woche einen dringlichen Appell an den Bundesrat lanciert. «Es darf nicht sein, dass im Bundesrat parteipolitische Kalküle über die Landesinteressen gestellt werden», heisst es im Schreiben, das SonntagsBlick vorliegt. Mitunterzeichnet wurde es von Vertretern aus SP, FDP, Die Mitte, GLP und den Grünen.

Ungeachtet des bereits angestimmten Requiems auf das Abkommen pendelt Staatssekretärin Livia Leu Agosti weiterhin tapfer zwischen Bern und Brüssel. Von ihr werden «Präzisierungen» in den drei strittigen Punkten Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen erwartet. Resultate vor Ostern wären laut Beobachtern eine Überraschung. «Mission impossible», sagt eine bundesratsnahe Quelle. «Es muss ein Wunder geschehen», meint ein Economiesuisse-Mitglied.

Ein zweites 1992 rückt näher

Optimistisch – oder zweckoptimistisch? – gibt sich Markwalder. Am Montag tritt die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats zusammen. Bundespräsident Parmelin wird kommen, auch Aussenminister Cassis. Der Tessiner reise extra aus seinen Ferien an. Ein letztes Hoffnungszeichen für die Euroturbos? Oder ist das alles nur Taktik, um einen Fortschritt von Leu Agosti besser verkaufen zu können? Man weiss ja nie.

Bleibt die Frage, was danach kommt. Ein Plan B ist nicht in Sicht. «Gouverner, c’est prévoir», sagt man – regieren heisst vorausschauen. Manche fürchten ein Szenario wie beim abgelehnten Fluglärmvertrag, bei dem sich die Alternative, der Status quo, als schlechter entpuppt hat. Ein zweites 1992 rückt näher. In jenem Jahr wurde der EWR-Beitritt abgelehnt. Mit jahrelangen negativen Folgen für manche Wirtschaftszweige.

Heute geht mitunter vergessen, dass nicht nur das Rahmenabkommen einer Wette gleicht, sondern auch seine Ablehnung: Vielleicht wird gar nichts passieren, wie die Gegner behaupten. Was aber, wenn tatsächlich Schweizer Exportfirmen wegen eingeschränkter europäischer Marktteilnahme eines Tages Stellen abbauen müssen? Wer wird dafür die Verantwortung übernehmen? Der Bundesrat? Die Bürgerlichen? Die Gewerkschaften? Sicher ist nur: Die Leidtragenden wären in diesem Fall die unteren und mittleren Einkommensschichten. Nicht schwerreiche, global tätige Finanzunternehmer.

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