Schwierige Verhandlungen
Die geheimen «Landezonen» des Bundesrats in der Europa-Frage

Die Schweiz will in der EU-Debatte vorwärtsmachen. Doch das intransparente Vorgehen sorgt für Ärger.
Publiziert: 29.06.2023 um 11:33 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2024 um 15:45 Uhr

«Weitermachen!», entschied der Bundesrat letzte Woche. Damit meint er die Sondierungsgespräche der Schweiz mit der EU. Sie sind ein Marathon, denn es geht um nichts weniger als um das Überleben der bilateralen Verträge. Die Schweizer Delegation ist seit einem Jahr fast jede Woche in Brüssel. Zehnmal war die Schweizer Chefunterhändlerin Livia Leu selber dort, 32 Mal ihre Unterunterhändler. Seit April hat sich der Rhythmus beschleunigt. Livia Leus Methode: Die Schweiz klärt in jedem Kapitel des umfangreichen EU-Verhandlungspakets, wo die Konflikte liegen. Sie bleibt bis Ende August. Danach übernimmt ihr Nachfolger, Alexandre Fasel, diese Funktion.

Das Lieblingswort Leus sind die «Landezonen». Damit gemeint sind Hunderte Seiten von Einzelvereinbarungen pro Kapitel. Darin steht, worauf sich Leu mit ihrem Gegenüber, dem EU-Kommissär Maroš Šefčovič, vorläufig geeinigt hat. «Wir nehmen es sehr genau», sagt eine mit dem Dossier vertraute Person. Die Schweiz werde geneckt als «das beste Mitglied der EU», weil sie es genauer weiss als alle anderen.

Der Bundesrat enthält diese «Landezonen» der breiten Öffentlichkeit vor. Er informiert nur gewisse Gruppen, darunter auch EU-Skeptiker, und dies auch nur in selektiver Weise. Zum Handkuss kommen etwa Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Parteispitzen, Parlamentsmitglieder – und ausgewählte Wirtschaftskreise. Dort sind es die EU-Turbos der Vereinigung Progresuisse und die EU-Skeptiker der Gruppierungen Autonomiesuisse sowie Kompass / Europa. Letztere bliesen vor zwei Jahren zum Frontalangriff auf das Rahmenabkommen. Jetzt werden sie mit Details zum Verhandlungsstand vom Bundesrat gefüttert, was erklärt, warum sie sich momentan zurückhalten.

Der Bundesrat will die Sondierungsgespräche mit der EU weiter vorantreiben. Es geht um nichts weniger als um das Überleben der bilateralen Verträge.
Foto: Shutterstock
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Ypsomed-Chef: «Alles richtig aufgegleist»

Den Kontakt hergestellt hat der solothurnische Unternehmer Simon Michel. Er ist CEO des kotierten Medtech-Unternehmens Ypsomed, das Injektionssysteme in die halbe Welt verkauft. In seiner Freizeit politisiert er für die FDP, kandidiert für den Nationalrat und gilt als Verfechter der Bilateralen mit der EU. Er ist die zentrale Figur von Progresuisse, kennt die «Landezonen» im Detail und sagt: «Der Bundesrat hat es diesmal richtig aufgegleist».

Wirbt für neue Bilaterale Verträge: Simon Michel, CEO von Ypsomed
Foto: Keystone

Der neue Deal gebe Rechtssicherheit für die Unternehmen, sagt Ypsomed-Chef Michel. Die Schweiz gewinne mit der Aufnahme von Verhandlungen den sofortigen Zugang zum Forschungsabkommen Horizon. Und die Verwaltung und Interessenvertreter würden dann wieder an allen wichtigen technischen EU-Untergremien, wo über Normen der Wirtschaft gesprochen werde, zugelassen – etwa im Maschinenbau oder im Stromdossier. Heute ist die Schweiz ausgeschlossen. «Dieses Am-Tisch-dabei-Sein ist extrem wichtig für die Wirtschaft und unser Land», sagt er.

Logistikchef Bertschi: «Keine Guillotine mehr!»

Skeptischer als Michel äussert sich das Gesicht von Autonomiesuisse, Hans-Jörg Bertschi. Der Chef des Logistikriesen Bertschi hatte Einblick in die «Landezonen» und sagt: «Es gibt Fortschritte. Wir unterstützen grundsätzlich den Weg zu einem neuen Abkommen.» Doch dann das Aber: «Noch sehr unklar ist die Streitschlichtung.» Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe noch immer in vielen der künftigen Abkommensbereichen das letzte Wort. Das dürfe nicht sein. Der EuGH als Streitschlichter komme nicht infrage, denn er sei «das Gericht der Gegenpartei». Bei Meinungsverschiedenheiten brauche es ein unabhängiges Schiedsgericht. Ansonsten wären es die gefürchteten «fremden Richter» aus Brüssel. Die direkte Demokratie wäre gefährdet.

EU-Skeptiker und Unternehmer: Hans-Jörg Bertschi, Inhaber und CEO von Bertschi Transporte.
Foto: Herbert Zimmermann für Handelszeitung

Unklar ist für Bertschi auch, ob Brüssel die sogenannte Guillotine-Klausel vollständig zurücknehmen werde. Diese besagt, dass bei Verletzung eines einzelnen Abkommens auch alle anderen Abkommen mit der EU hinfällig würden. Bertschi dazu: «Wenn die Schweiz automatisch EU-Recht übernehmen soll, muss sie bei abweichenden Parlaments- und Volksentscheiden frei sein, ohne dass die EU ihr mit der Kündigung einzelner Verträge droht.» Hier gebe es Klärungsbedarf. Nur Gegenmassnahmen, wie sie im internationalen Handel gängig sind, sieht er als gerechtfertigt.

«Neues Abkommen nicht um jeden Preis»

Die Vereinigung Kompass / Europa hält sich dagegen mit einer Beurteilung zurück. «Wir sind bewusst still gewesen», sagt Geschäftsführer Philip Erzinger. Noch sei nicht klar, zu welchem Preis die Schweiz eine Neuordnung der bilateralen Verträge einkaufe. «Sollte bekannt werden, dass die Schweiz grosse Konzessionen eingehen müsste, um einen neuen Vertrag zu unterzeichnen, werden wir ein neues Abkommen mit den nötigen finanziellen Ressourcen und mit aller Kraft bekämpfen», so Erzinger.

Ein solcher heisser Punkt sei die Anerkennung der Unionsbürgerrichtlinie durch die Schweiz. Sie regelt, ab wann EU-Bürger in einem fremden Land Sozialleistungen beziehen dürfen, ohne nach Hause geschickt zu werden. Die EU drückt aufs Maximum, die Schweiz bremst mit dem Argument, dass die Freizügigkeit nur für Arbeitnehmende gelte, nicht aber für Sozialhilfeempfänger.

Erzinger und Bertschi kritisieren, dass der Bundesrat über die «Landezonen» nur selektiv informiert. «Es gibt gewisse Kreise, die viele Details kennen, andere tappen im Dunkeln. Das ist kein transparentes Vorgehen», sagt Bertschi. «Lieber Bundesrat, mach die strittigen Verhandlungspunkte transparent», doppelt Erzinger nach. Die Absicht ist klar: Man will mit den beissenden Details ans Publikum gelangen.

Verhandlungspositionen nicht verraten

Ypsomed-Chef Simon Michel sagt, solche Forderungen seien unklug. Denn damit würde der Bundesrat seine Verhandlungspositionen verraten, so etwas mache kein Unternehmer. «Publiziert er die Details, werden sich die Gegner des Abkommens auf ihn stürzen, bevor man überhaupt verhandelt hat.» Dies müsse um jeden Preis verhindert werden. Er weiss, dass die Gegner auf der Lauer liegen. Andreas Valda

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Handelszeitung» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.handelszeitung.ch.

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Handelszeitung» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.handelszeitung.ch.

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