Verpatzter Neustart mit der EU
Kollegen warnten Cassis vor Brüssel-Reise

Bundesrat Ignazio Cassis wollte die Negativspirale mit der EU beenden. Stattdessen stellt diese der Schweiz ein neues Ultimatum.
Publiziert: 21.11.2021 um 00:08 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2021 um 09:56 Uhr
Camilla Alabor und Simon Marti

In psychologischer Kriegsführung hat die EU der Schweiz einiges voraus. Das bewies sie diese Woche erneut eindrücklich.

Als Bundesrat Ignazio Cassis (60) am Montag nach Brüssel reiste, hoffte er, mit EU-Kommissar Maros Sefcovic (55) eine «Standortbestimmung» vorzunehmen. So formulierte er es im Vorfeld des Treffens im Gespräch mit der «NZZ».

Die EU hatte andere Pläne. Nicht nur verweigerte Sefcovic, sein Ansprechpartner, im Anschluss an das Treffen eine gemeinsame Pressekonferenz; der Tessiner musste separat vor die Medien treten. Vielmehr stellte Brüssel dem Schweizer Aussenminister auch ein faktisches Ultimatum. Bis Januar, so Sefcovic, erwarte die EU eine «Roadmap». Einen Fahrplan also, wie die Schweiz die bestehenden Probleme anpacken will – Stichworte Rechtsübernahme, Streitschlichtung, Kohäsionsbeitrag.

Bundesrat Ignazio Cassis (r.) erhoffte sich vom Treffen mit EU-Kommissar Maros Sefcovic einen Neustart der Beziehungen mit Brüssel.
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Als auch Cassis schliesslich vor die Medien trat, sprach er im Hinblick auf das Treffen im Januar lediglich davon, eine «gemeinsame Agenda» zu erarbeiten; von einem Ultimatum wollte er nichts wissen.

Cassis, der Glücklose

Schon am Mittwoch folgte der nächste Coup, ein grosses Interview von Sefcovic im «Tages-Anzeiger». Der Slowake sprach in undiplomatischer Deutlichkeit davon, dass sich die Probleme zwischen der Schweiz und der EU «nun mal nicht in Luft aufgelöst» hätten. Und dass er bis Januar «einen Schnellstart» erwarte. Worauf Cassis, erneut in Rückstand geraten, dem «Tages-Anzeiger» am Freitag ebenfalls ein Interview gab. Was Sefcovic am Montag kommuniziert habe, «hatte relativ wenig mit unserem Treffen zu tun», sagte Cassis. «Eine Deadline war bei unserem Gespräch kein Thema.» Freundschaftlich geht anders.

Dabei war es das erklärte Ziel des Aussenministers, die

Negativspirale mit der EU zu stoppen.

Ist er damit schon jetzt gescheitert?

Sicher ist: Cassis war gewarnt. In anderen Departementen äusserte man in den Wochen zuvor Zweifel daran, wie klug eine Reise nach Brüssel sein könne, wenn der Aussenminister keine konkreten Vorschläge im Gepäck hat. «Manche fragten, was er sich von einem Treffen mit Sefcovic überhaupt verspricht», meint ein Insider. «Nun sieht man: Es war ein Steilpass für die EU.» Zumal die Landesregierung in der Europafrage nicht viel weiter scheint als nach dem Abbruch der Gespräche am 26. Mai.

Cassis, der Glücklose: Das Bild zementiert sich. Dabei ist das nur ein Teil der Geschichte.

Bundesratsparteien drucksen herum

Der andere Teil ist der, dass seine sechs Mitmagistraten wenig Neigung zeigen, im Europadossier nach Lösungen zu suchen. Manchem Regierungsmitglied, so sieht man es zumindest im Aussendepartement, sei es ganz recht, wenn Cassis erneut auf die Nase falle. Da sie ihm in der Europafrage keinen Erfolg gönnten, behinderten seine Bundesratskollegen jede konstruktive Diskussion.

Mit Ausnahme der SVP haben auch die Bundesratsparteien kein Interesse daran, das Europathema hochzukochen. Statt der Bevölkerung zu sagen, was Sache ist – dass ohne Lösung in der Frage des institutionellen Rahmenabkommens der bilaterale Weg zu Ende geht –, drucksen sie herum oder zünden Nebelpetarden wie eine «Strom-Neat».

Wobei der Aussenminister in Brüssel durchaus ein, zwei Erfolge verbuchen konnte. So verzichtete die EU darauf, die Kohäsionsmilliarde im Memorandum of Understanding als Marktzugangsgebühr zu definieren, wie sie es einst gefordert hatte. Auch die Tatsache, dass Brüssel einem politischen Dialog zustimmt – zumindest einem weiteren Treffen –, darf Ignazio Cassis als Erfolg werten.

Dass ein weiterer Gesprächstermin bereits als Erfolg gilt, zeigt allerdings, auf welchem Niveau die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU derzeit verharren.

Kohäsionsbeitrag steht zur Debatte

Angesichts dieser betrüblichen Lage wollen manche Aussenpolitiker nicht länger zuwarten und das Heft nun selber in die Hand nehmen. Im Vordergrund steht dabei die Kohäsionsmilliarde.

«Die Idee, den Kohäsionsbeitrag in Zukunft regelmässig zu zahlen, steht sicher zur Debatte», sagt die Grünen-Aussenpolitikerin Sibel Arslan (41, BS). Ratskollegin und Mitte-Politikerin Elisabeth Schneider-Schneiter (57) sieht in der Milliardenüberweisung ein Mittel, zumindest eines der aktuellen Probleme zu lösen: den Ausschluss aus dem EU-Forschungsprogramm Horizon. «Eine Möglichkeit wäre, dass sich die Schweiz zur regelmässigen Zahlung des Kohäsionsbeitrags verpflichtet, wenn sie im Gegenzug bei Horizon die volle Assoziierung erhält», sagt Schneider-Schneiter.

Einen anderen Ansatz verfolgt Nationalrat Hans-Peter Portmann (58, ZH). Der Freisinnige wirbt für eine «sektorielle Weiterentwicklung» der Beziehungen. Vorab sollen sich beide Seiten auf verbindliche Parameter einigen, die für jeden Vertrag gelten sollen. Damit würde festgehalten, welche Punkte ein Vertrag erfüllen muss. «Die Schweiz und die EU einigen sich zum Beispiel darauf, dass jeder Vertrag einen Mechanismus zur Streitschlichtung beinhaltet», schlägt Portmann vor. Dieser Mechanismus könne dann von Vertrag zu Vertrag unterschiedlich geregelt werden.

Der Druck treibt die Sache voran

Portmann ist Präsident der überparteilichen Gruppe «Für eine Zukunft der Bilateralen». Am 13. Dezember trifft sie mit dem französischen Botschafter Frédéric Journès zusammen, weil Paris zum Jahreswechsel den Ratsvorsitz der EU übernimmt. Die Parlamentarier wollen ausloten, ob Portmanns Modell eine Chance hat. Die Bereitschaft, es dem Bundesrat zur Not zu diktieren, ist jedenfalls vorhanden.

Für Cassis muss das nicht schlecht sein: Durch den Druck aus dem Parlament und vonseiten der EU wird es dem Gesamtbundesrat nicht länger möglich sein, das Dossier weiterhin monatelang vor sich herzuschieben. Vielmehr wird sich die Regierung einigen müssen, worüber Cassis mit der EU im Januar sprechen soll – und worüber nicht. Ob Kohäsionsmilliarde, Streitschlichtung oder Rechtsübernahme: Die offenen Fragen sind dieselben wie vor dem 26. Mai.

Der Abbruch der Verhandlungen hat daran nichts geändert.

Bundesratspraesident Guy Parmelin spricht an einer Medienkonferenz ueber die Tourismusstrategie des Bundes, am Mittwoch, 10. November 2021, im Medienzentrum Bundeshaus in Bern. (KEYSTONE/Anthony Anex)
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Jetzt solls aufwärts gehen:So will der Bundesrat den Schweizer Tourismus retten
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