«Sie fragten, ob sie nach draussen gehen dürfen»
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Flüchtlingskinder:«Sie fragten, ob sie nach draussen gehen dürfen»

Der Zuger Guido Fluri (55) hat 140 ukrainische Kinder und ihre Mütter in die Schweiz geholt
In Mümliswil finden sie endlich Ruhe

Fast alle haben sie Putins Zerstörung in ihrer Heimat Ukraine hautnah miterlebt. Dann verbrachten sie Tage in Autos auf der Flucht. In der Schweiz können sie nun zum ersten Mal durchatmen. Ihre Mütter erzählen: «Die Kinder haben Bomben gehört und Krieg gesehen.»
Publiziert: 14.03.2022 um 00:40 Uhr
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Aktualisiert: 14.03.2022 um 08:05 Uhr
Beat Michel

Putins Angriffskrieg hat bereits viele Menschen aus der Ukraine vertrieben. Fast ausschliesslich Frauen mit ihren Kindern verlassen das Land. Die Männer bleiben, um gegen die Invasoren zu kämpfen. In der ganzen Schweiz treffen jetzt Familien ein und versuchen erst einmal, den Kriegsschock zu verarbeiten. Blick sprach mit betroffenen Müttern in der Schweiz, wie sie mit ihrer schwierigen Situation umgehen.

In der Gedenkstätte für Heim- und Verdingkinder in Mümliswil SO treffen wir auf eine grosse Gruppe von Flüchtlingen. 140 Kinder samt ihren Müttern flogen am vergangenen Dienstag mit der Edelweiss Air aus dem polnischen Krakau in die Schweiz. Hinter der beherzten Aktion steht der Unternehmer Guido Fluri (55) mit seiner Stiftung. 70 der Kinder haben zum Teil schwerste Behinderungen. Die Familien wirken auf den ersten Blick glücklich, aber die Trauer und Angst holt sie immer wieder ein.

Bomben explodierten im Wohnquartier

Da ist zum Beispiel Restaurantbesitzerin Olena Kolbasynska (43) aus Browary. Sie konnte auf der Flucht kein Gepäck mitnehmen, weil der Bus bis auf den letzten Zentimeter beladen war. «Es waren noch zwei Plätze frei, ich sagte spontan zu und stieg ein. Wir hatten keine Wahl. Wir sind geflüchtet, weil in der Nähe von unserem Haus Bomben einschlugen.»

Die Familie Poltorapawlowa flüchtete sich in das Treppenhaus, als Putins erste Bomben in Charkiw explodierten. Hier sind die dicksten Mauern in dem Mehrfamilienhaus.
Foto: Irina Poltorapavlova
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Ihr Sohn (9) ist tief traumatisiert. Die Mutter sagt unter Tränen: «Zuerst hat er die Flucht als Abenteuer angesehen. In der Schweiz aber weinte er die ersten Tage nur. Er fragt immer wieder nach seinem Vater. Er will wissen, wann wir endlich nach Hause gehen. Ich muss ihm dann sagen, dass wir vermutlich noch lange hier bleiben müssen. Erst vor ein paar Tagen ist er etwas zu ruhiger geworden.»

Grosse psychische Belastung

Auch Andri (8), der Sohn von Sweta Wowk (46), ist psychisch am Ende. Zwei Tage lang liess er sich nicht trösten. Er hat Schlimmes gesehen. Seine Mutter sagt: «Wir mussten zuerst aus dem umkämpften Browary in der Nähe von Kiew in den sicheren Westen der Ukraine flüchten. Dort konnten wir in einem Kloster schlafen. Da wurde uns dann ein Platz in einem Bus nach Polen angeboten. Von dort konnten wir in die Schweiz fliegen.»

Olga Kuzenna (28) flüchtete mit ihrem einjährigen Sohn Mark nach Mümliswil. Sie brauchte drei Tage mit dem Auto, um aus einem Vorort von Kiew in eine sichere Stadt zu fahren. «Es gab keinen sicheren Korridor. Wir hatten Angst», erzählt sie. Jetzt macht sie sich grosse Sorgen um ihre Mutter. Sie sagt: «Ich will, dass auch sie flüchten kann. Die Lage zu Hause gerät ausser Kontrolle.» Sie spricht mit Guido Fluri, er verspricht ihr, die betagte Frau auf die Liste zu nehmen. Fluri arbeitet schon am nächsten Evakuierungsflug.

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Keine Zeit zum Überlegen

«Wir müssen jetzt handeln», sagt Guido Fluri zu Blick. «In zwei Wochen ist es zu spät. Wir müssen möglichst viele Menschen in Sicherheit bringen.» Der Stiftungspräsident doppelt nach: «Es herrscht grosse Not. Die angrenzenden Länder schaffen das nicht. Der Bundesrat muss eine Taskforce aufstellen und die Hilfe kanalisieren. Die Solidarität in der Schweizer Bevölkerung ist riesig.»

Auch ohne Hilfe schaffen es viele ukrainische Frauen selbständig mit ihren Kindern in die Schweiz. Bis am Sonntag haben sich bereits über 3100 Flüchtlinge aus der Ukraine registrieren lassen, die meisten in Zürich. Weil keine Visumspflicht besteht, müssen sie nicht in einer Grenzregion bleiben. Blick traf in der Limmatstadt Irina Poltorapawlowa (33) aus Charkiw. Sie ist mit ihren drei Kindern, elf weiteren Familienmitgliedern und zwei Freundinnen mit Autos in die Schweiz gereist. Ihr Mann, Arzt in einer Drogenentzugsklinik, blieb bei seinen Patienten.

Sondersendung auf Blick TV

Millionen von Menschen flüchten vor dem Krieg in der Ukraine. Die Hälfte davon sind Kinder. Viele andere Minderjährige müssen inmitten von Panzern, Gefechten und Luftalarmen ausharren. Sie zu unterstützen, hat sich das Uno-Kinderhilfswerk Unicef zur Aufgabe gemacht. Am Montag sammelt das Hilfswerk daher für die Kinder, die vom Ukraine-Krieg betroffen sind.

Blick TV wird am Mittag dazu eine Sondersendung ausstrahlen. Im Studio wird Jürg Keim von Unicef berichten, wie es Kindern und Jugendlichen im Kriegsgebiet geht. Psychologe Allan Guggenbühl wird erklären, wie Kinder mit solch traumatischen Erlebnissen umgehen. Und Chris Melzer vom Uno-Flüchtlingshilfswerk wird von der ukrainischen Grenze berichten.

Unicef-Spendenkonto für die Ukraine: PC 80-7211-9 – oder spenden Sie gleich online

Millionen von Menschen flüchten vor dem Krieg in der Ukraine. Die Hälfte davon sind Kinder. Viele andere Minderjährige müssen inmitten von Panzern, Gefechten und Luftalarmen ausharren. Sie zu unterstützen, hat sich das Uno-Kinderhilfswerk Unicef zur Aufgabe gemacht. Am Montag sammelt das Hilfswerk daher für die Kinder, die vom Ukraine-Krieg betroffen sind.

Blick TV wird am Mittag dazu eine Sondersendung ausstrahlen. Im Studio wird Jürg Keim von Unicef berichten, wie es Kindern und Jugendlichen im Kriegsgebiet geht. Psychologe Allan Guggenbühl wird erklären, wie Kinder mit solch traumatischen Erlebnissen umgehen. Und Chris Melzer vom Uno-Flüchtlingshilfswerk wird von der ukrainischen Grenze berichten.

Unicef-Spendenkonto für die Ukraine: PC 80-7211-9 – oder spenden Sie gleich online

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Schreckliche Bilder aus der Heimat

Sie sagt: «Wir sind extrem gestresst, wir sehen die schrecklichen Bilder aus der Heimat, wir müssen viel weinen. Die Kinder fühlen natürlich, dass es uns Erwachsenen schlecht geht.» Die Familie musste innert weniger Stunden die Flucht antreten: «Wir hörten die Bomben in der Nacht, da haben wir im Treppenhaus geschlafen, weil da die dicksten Betonmauern sind. Um fünf Uhr morgens sind wir dann losgefahren. An einem Tag waren wir 24 Stunden am Stück im Auto.»

Die Flucht bis in die Schweiz führte über Rumänien, Ungarn, Österreich, Deutschland. «Wir wollten nicht in der EU bleiben, wir hatten Angst vor einer Eskalation, dass die Truppen auch Europa angreifen. Erst in der Schweiz haben wir uns sicher gefühlt», sagt Irina Poltorapawlowa.

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