Lisa (†8) im Könizbergwald erschlagen
Die Mutter als Mörderin – so klar wirkt die Sache nicht

Diese Woche steht Erika M. wegen Mordes vor Gericht. Sie soll ihre eigene Tochter heimtückisch und brutal erschlagen haben. Doch ganz so einfach wirkt der Fall nicht. Eine Analyse.
Publiziert: 06.06.2024 um 20:13 Uhr
|
Aktualisiert: 06.06.2024 um 20:34 Uhr
RMS_Portrait_AUTOR_715.JPG
Gina KrücklReporterin

Lisa M.* (†8) aus Niederwangen BE war gerade einmal acht Jahre alt, als jemand ihrem Leben ein gewaltsames Ende bereitete. Schon einen Tag, nachdem ihre Leiche im Könizbergwald gefunden wurde, nimmt ihre Geschichte eine weitere, tragische Wendung: Mutter Erika M.* (32) wird verhaftet. Sie soll ihre eigene Tochter heimtückisch in einen Wald gelockt und dort mit einem Stein erschlagen haben. Dafür musste sie sich diese Woche vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland verantworten.

Der Prozess begann am Mittwoch mit der Befragung von Erika M. und dem Plädoyer der Staatsanwältin. Am Donnerstag übernahm M.s Verteidiger die Bühne. In seinem Plädoyer versuchte er, die Argumente der Anklage zu entkräften. Und zeigte damit, dass der Fall gerade in einem Indizienprozess nicht immer eindeutig ist. Eine Analyse.

Wer den ersten Prozesstag verfolgte, pflichtete danach wohl der Staatsanwältin bei. Mit insgesamt 16 Indizien – unter anderem DNA-Spuren auf der Tatwaffe, einem nur dem Opfer und der Mutter bekannten Tatort sowie einem Zeugen, der beide zum Tatzeitpunkt dorthin laufen sah – präsentierte die Staatsanwältin ein sehr schlüssiges Bild.

Gerade einmal acht Jahre alt war Lisa M., als im Februar 2022 ihrem Leben brutal ein Ende bereitet wurde. Ihre eigene Mutter Erika M. soll sie getötet haben.

Begründete Zweifel oder nicht?

Doch am zweiten Tag schaffte es der Verteidiger, Zweifel zu streuen. Er erklärte, dass Erika M. den acht Kilo schweren Stein keinesfalls so hätte halten können, wie sie müsste, um die Spuren im Szenario der Anklage zu erklären. Und dass der Tatort – ein von Mutter und Tochter gebautes «Versteck» – doch nicht so geheim war. Unter anderem soll davon im Chat mit einer Freundin die Rede gewesen sein. 

Gerade einmal acht Jahre alt war Lisa M., als im Februar 2022 ihrem Leben brutal ein Ende bereitet wurde. Ihre eigene Mutter Erika M. soll sie getötet haben.
1/5

Auch den zum Tatzeitpunkt zwölfjährigen Hauptzeugen nahm der Verteidiger in die Mangel. Dieser will gesehen haben, wie Erika M. und ihre Tochter zum Tatzeitpunkt in Richtung Wald liefen. Laut dem Verteidiger Schwachsinn: Der Zeuge habe durch die Medien vom Fall erfahren und sich eine Geschichte zusammengereimt, weil ihm die Aufmerksamkeit gefiel. Als Beweis nannte der Verteidiger die vielen Widersprüche in den Aussagen des Zeugens – die jedes Mal näher an das Bild der Anklage rücken. Und ein anonymer Hinweis, gemäss dem der Zeuge in der Schule sogar die Geschichte erzählte, er habe Lisa M. selbst getötet.

Zwei andere Tatverdächtige

Je länger der Verteidiger sprach, desto unschärfer wurde das Bild der Anklage. Ganz offen kritisierte er die Ermittlungen: Die Polizei habe sich am ersten Tag auf Erika M. eingeschossen und alles andere ignoriert. So gaben zwei Zeugen an, am Tatabend ein Weinen aus dem Wald gehört zu haben. Dies aber zu einem Zeitpunkt, an dem Lisa M. gemäss der Anklage bereits tot war.

Einer der Zeugen will zudem eine verdächtige, männliche Gestalt im Wald gesehen haben. Weswegen der Verteidiger zwei neue Verdächtige ins Spiel bringt: den vielleicht oder vielleicht auch nicht lügenden Hauptzeugen und einen Ex-Freund von Erika M., der sich nach Lisas Tod zumindest auffällig verhielt. Beide seien nie richtig überprüft worden. Zu den Vorwürfen des Verteidigers entgegnete die Staatsanwältin trocken, dass breit ermittelt und sauber gearbeitet wurde. Ein nicht existenter Dritttäter könne aber nicht gefunden werden.

Wie wichtig Kontext ist

Publikum und Medien haben eine sehr begrenzte Einsicht in die Beweismittel. Man sieht nur, was Anklage und Verteidigung vorbringen, und hört ihre jeweiligen Interpretationen dazu. Beispielsweise der oben erwähnte, anonyme Hinweis zum 12-jährigen Zeugen, der sich in der Schule mit dem Mord gebrüstet haben soll: Während die Staatsanwältin den Einwand am ersten Prozesstag grösstenteils ignorierte, relativierte sie am zweiten Tag: Trotz Nachforschungen konnte weder der anonyme Tippgeber gefunden, noch die Aussage darin vom Lehrpersonal oder Klassenkameraden bestätigt werden.

Oder die Tatsache, dass Lisas Grosseltern in Anklageschrift als Privatkläger aufgeführt sind. Üblicherweise ist das ein Hinweis darauf, dass die Familie sich auf die Seite der Anklage schlägt. Doch am zweiten Tag wird in einem Nebensatz erwähnt, dass beide als Privatkläger zurückgetreten sind. Es ist daher möglich, dass sich die Familie nie von Erika M. abwandte, sondern lediglich Zugang zu den Akten wollte. Einen Zugang, den man als Nebenkläger bekommt.

Hat Erika M. ihre Tochter Lisa M. getötet oder nicht? Diese Frage kann hier nicht beantwortet werden. Sie bestreitet die Tat. Bis zu einem rechtskräftigen Urteil gilt somit die Unschuldsvermutung. Klar ist aber: Es dürfte für die Richter eine Herausforderung werden, in diesem Prozess ein Urteil zu fällen. Lebenslang oder Freispruch. Oder etwas dazwischen. Am kommenden Donnerstag um 9.30 Uhr soll das Urteil verkündet werden.

* Name geändert

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?