Interview zum Kampf gegen Jugendgewalt
«Wir überlassen es dem Zufall, ob sich Jugendliche radikalisieren»

Marco Bezjak, Stiftungspräsident der Mojuga, die in verschiedenen Zürcher Gemeinden Jugendarbeit betreibt, darüber, warum sich Jugendliche radikalisieren und wie man bei Warnsignalen vorgeht.
Publiziert: 02.06.2024 um 13:54 Uhr
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Sie sind seit 2001 in der Jugendarbeit tätig. Wie und warum radikalisiert sich ein Jugendlicher?
Marco Bezjak:
Wir erleben, dass sich ein Teil der Jugendlichen nicht der Gesellschaft zugehörig fühlt. Sie fühlen sich nicht gesehen, nicht gehört, sind unter ständigem Leistungsdruck. Sie suchen Anschlussmöglichkeiten und fühlen sich angezogen von radikalisierten Gruppierungen.

Was macht diese Gruppierungen für sie attraktiv?
Die Gruppierungen sind geübt, solche Jugendliche anzusprechen, richten sich danach aus. Es gibt klare Werte und Regeln, einfache Lösungen. Das gibt ein Gefühl von Sicherheit.

Wo beginnt die Radikalisierung?
Ein gewisses Suchen und Experimentieren in der Jugend ist normal. Verschliesst sich ein Jugendlicher zusehends, kommt er nicht mehr ins Jugi, macht uns das hellhörig. Auch das Tragen von Waffen, Nähe zur gewaltbereiten Fussball-Fanszene und extremistische Äusserungen sind Warnsignale. Unsere Aufgabe ist es, nicht zu werten, sondern im Gespräch zu bleiben. Dadurch erzählen uns Jugendliche Dinge, die sie sonst niemandem erzählen können.

Anfang März stach ein 15-Jähriger in Zürich auf einen Juden ein.
Foto: BRK News
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Was erleben Sie seit dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober?
In einzelnen Gemeinden gab es in Jugendhäusern plötzlich stark antisemitische Sprüche. Wir fragten uns, woher kommt diese Haltung? Ist es einfach ein Übernehmen und Ausprobieren? Die Jugendlichen sollen darüber sprechen können, ohne verurteilt zu werden. Das ist schwer auszuhalten, aber wir signalisieren Interesse und setzen ihren Aussagen unsere Haltung gegen Diskriminierung gegenüber. Wir haben einen Abend mit einem Imam gestaltet, der alle ihre Fragen offen beantwortet hat. In zwei Gemeinden hat sich die Situation so wieder beruhigt.

Sie sind eine Art Frühwarnsystem. Jugendliche wie der Messerstecher von Zürich fallen bei Ihnen auf. Ausgerechnet in dessen Wohngemeinde fehlte bis vor kurzem eine Jugendarbeit.
Begleitung ist der beste Schutz vor Radikalisierung. Im Kanton Zürich ist ein Mitarbeitender für 500 bis 1500 Jugendliche zuständig. Wir erreichen so nur rund zehn Prozent. Damit überlassen wir eine allfällige Radikalisierung dem Zufall. Wir Erwachsenen reagieren erst, wenn uns etwas stört. Bis eine ungute Entwicklung sichtbar wird, ist viel Zeit verstrichen.

Zum Beispiel?
In einer Gemeinde traten fünf Sechstklässler sehr provokativ auf. Wir wollten für die Gruppe einen Ort finden, wo sie gestalten können: einen Bauwagen oder eine Feuerstelle mit Dach. Das Projekt hätte wenige Tausend Franken gekostet, doch die Gemeinde lehnte ab. Wenige Jahre später überfiel genau diese Gruppe Tankstellen.

Gemäss einer Umfrage trug jeder fünfte männliche Jugendliche schon mal ein Messer – aus einem diffusen Bedrohungsgefühl heraus. Können Sie das erklären?
Wir spüren eine gewisse Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Jugendliche wachsen in einer von Krisen geplagten Welt auf. Sie gehen nicht mehr davon aus, dass eine Lehre oder ein Studium ihnen einen besseren Status als den ihrer Eltern sichert. Das ist schwierig auszuhalten. Gleichzeitig berichten uns viele über Stress und Leistungsdruck.

Ihre mangelnden Ressourcen sind auch politisch ein Thema. Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) will bis Ende Jahr das Potenzial zur Eindämmung der Jugendgewalt abklären. Präventionsmassnahmen wie die Jugendarbeit spielen eine zentrale Rolle. Welche Ressourcen bräuchten Sie?
Für echte Präventivarbeit bräuchten wir zehnmal mehr Ressourcen.

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