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Intransparenz bei Begutachtungen
IV-Ärzte wehren sich gegen Tonaufnahmen

Die Politik will Gespräche zwischen Gutachtern und Versicherten künftig aufgezeichnet sehen. Doch einige Ärzte und IV-Stellen weigern sich bis zuletzt.
Publiziert: 24.01.2021 um 11:26 Uhr
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Aktualisiert: 24.01.2021 um 20:38 Uhr
Der Berner Arzt L. hat mit IV-Gutachten seit 2012 rund 3,1 Millionen Franken verdient. Der Mann ist bekannt dafür, kaum jemanden für arbeitsunfähig zu erklären.
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Thomas Schlittler

Ärzte und Psychiater, die im Auftrag der Invaliden­versicherung (IV) medizinische Gutachten erstellen, bestimmen Jahr für Jahr über Tausende Schicksale. Ihre Einschätzung ist entscheidend dafür, ob Menschen eine IV-Rente erhalten, sich beruflich komplett umorientieren müssen – oder gar in die Sozialhilfe abrutschen.

Das Problem: Bei einem Teil der IV-Gutachter bestehen Zweifel an Unabhängigkeit und Neutralität. Da sie von den kantonalen IV-Stellen bezahlt werden, besteht für sie ein Anreiz, in deren Sinn zu entscheiden, also gegen eine Arbeitsunfähigkeit der Versicherten – und damit gegen eine Rente.

Immer wieder beklagen sich Versicherte da­rüber, dass die Begutachtung durch den IV-Arzt nicht korrekt abgelaufen sei – und dass dessen Urteil schon im Voraus festgestanden habe. «Viele meiner Mandanten be­anstanden, dass im Gutachten ­etwas anderes steht, als sie in der Untersuchung gesagt haben», sagt Rechtsanwalt Leo Sigg (45).

Dies zu beweisen, ist für Betroffene jedoch schwierig bis unmöglich. Die Notizen des IV-Arztes sind meist das Einzige, was von ­einer Begutachtung übrig bleibt.

Um dieses Ungleichgewicht zu beheben, gäbe es eine einfache Möglichkeit: Tonaufnahmen. Sigg: «Damit könnten die Ver­sicherten vor Missbräuchen im Gutachterwesen geschützt werden.»

Auch Politik ist für Tonaufnahmen

Die Politik sieht das genauso. Vergangenen Sommer verabschiedete das Parlament eine Revision des IV-Gesetzes – unter anderem mit dem Ziel, die Transparenz des Verfahrens zu erhöhen. Konkret wird verlangt, dass in Zukunft das Gespräch zwischen Gutachter und der ver­sicherten Person mittels Ton­aufnahme dokumentiert sowie zu den Akten genommen werden muss – es sei denn, der Versicherte bestimmt es anders.

Das neue Gesetz tritt aller Vo­raussicht nach am 1. Januar 2022 in Kraft. Dennoch wehren sich ­einige Ärzte und Gutachter stellen noch immer mit Händen und Füssen dagegen, dass ihre Ge­spräche mit den Versicherten aufgezeichnet werden.

Sigg betreut derzeit einen Mandanten im Aargau, wo dies der Fall ist. Pikant: Die kantonale IV-Stelle unterstützt die Verweigerung der Ärzte. «Die Sozialversicherungsanstalt Aargau hat verfügt, dass eine Ton- oder Videoaufnahme nicht zulässig ist», so Sigg.

Der Jurist hat diese Verfügung angefochten. Für ihn ist klar, dass die Versicherten gleich lange Spiesse wie die IV-Stelle ­haben müssen: «Sie sollen beweisen dürfen, was gefragt und gesagt wurde.» Es sei unverständlich und ­stossend, wenn sich Gutachter und ­IV-Stellen ohne Grund gegen eine ­solche Transparenz stellen. «Offenbar bestehen Ängste, dass die Gutachter nicht mehr schreiben können, was sie wollen.»

SonntagsBlick wollte von der betroffenen Gutachterstelle und deren Ärzten wissen, was ihre Gründe für die Verweigerung von Tonaufnahmen seien. Doch die ­Anfrage blieb unbeantwortet.

Keine rechtliche Grundlage im Aargau

Die Sozialversicherungsanstalt Aargau begründet ihr Vorgehen damit, dass es noch keine recht­liche Grundlage gebe, um eine Gutachterstelle zu Tonaufnahmen zu verpflichten – weder auf Ebene des Bundes noch der des Kantons. Sprecherin Linda Keller: «Die Gerichte im Kanton Aargau haben noch kein entsprechendes Urteil erlassen.»

Zudem seien die Herausfor­derungen in Bezug auf den Datenschutz, die mit den vorgesehenen Tonaufnahmen einhergehen, für die involvierten Stellen enorm.

Viele wichtige Detailfragen seien zurzeit noch nicht geklärt. «Es scheint uns wichtig, die verbleibende Zeit bis zum Inkrafttreten der neuen Verordnung zu nutzen, um die offenen Fragen sorgfältig und abschliessend zu klären», so Keller.

Beim Bundesamt für Sozial­versicherungen (BSV), das für die kantonalen IV-Stellen zuständig ist, klingt es ähnlich: «Im Hinblick auf einen sachdienlichen und rechtskonformen Gebrauch der Tonaufnahmen ist es unerlässlich, dass wichtige Fragen im Bereich des Verfahrens und des Datenschutzes noch geregelt werden», sagt Sprecherin Elisabeth Hostettler. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Pflicht zur Tonaufnahme ab 2022 einheitlich in allen Sozialversicherungen verankert sein werde.

Gemäss Bundesgericht nicht zulässig

Des Weiteren komme eine ­Anwendung noch nicht in Kraft stehenden Rechts einer «unzulässigen Vorwirkung» gleich. Dies schaffe Unsicherheit, aber auch Rechtsungleichheiten – und sei daher gemäss Bundesgericht nicht zulässig. Hostettler: «Das BSV befürwortet deshalb ein Zuwarten mit den Tonaufnahmen der Interviews, bis die wichtigen Aus­führungsbestimmungen mit der Gesetzesänderung in Kraft ge­treten sind.»

Rechtsanwalt Leo Sigg lässt sich davon nicht beirren. Er ist ­zu­versichtlich, dass das Aargauer Versicherungsgericht seinem Mandanten recht geben wird: «Gemäss Urteilen verschiedener kantonaler Versicherungsgerichte dürfen die Gutachter bereits heute solche Aufnahmen nicht mehr grundlos verweigern. Das verlangen die Fairness und das Prinzip der sogenannten Waffengleichheit.»

SonntagsBlick liegen zwei Gerichtsurteile vor, die diese Aus­sage bestätigen: Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich kam im März 2020 in einem Streitfall zum Schluss, dass die IV-Gutachterstelle auf Wunsch des Ver­sicherten bereits heute anzuweisen sei, bei der Begutachtung ­Tonaufnahmen zu machen oder zuzulassen. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen entschied im September 2020 in einem ­anderen Fall ebenso.

Einseitige IV-Ärzte können weiter abkassieren
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Trotz Revision des Bundes:Einseitige IV-Ärzte können weiter abkassieren
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