Wir haben noch nie so viele Menschen sterben sehen
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IPS-Pflegende im Dauerstress:Wir haben noch nie so viele Menschen sterben sehen

IPS-Kenner Thierry Fumeaux
«Gefahr, dass man IPS nicht lebend verlässt, ist hoch»

IPS-Kenner Thierry Fumeaux kritisiert, dass die Schweiz unvorbereitet in die Pandemie gerast sei. Und: Er befürchtet, dass die hohe Belastung auf den Intensivstationen bald zu einem Fachkräftemangel führt – viele Mitarbeiter hätten den Job bereits verlassen.
Publiziert: 17.01.2022 um 16:09 Uhr
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Aktualisiert: 17.01.2022 um 17:15 Uhr

Noch nie war das Thema Intensivpflegestation (IPS) in den Köpfen der Menschen so präsent wie während der Corona-Pandemie. Dass diese plötzlich so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, freut auch Thierry Fumeaux, Präsident der Stiftung für Intensivmedizin. Dennoch sieht er noch grosses Nachholpotenzial. Denn die Schweiz sei unvorbereitet in die Pandemie gerast, kritisiert er gegenüber der «NZZ».

Der Grund: «Die Schweiz hatte zwar einen Pandemieplan – aber niemand konnte damit im Ernstfall etwas anfangen.» Die Gesellschaft für Intensivmedizin hätte ihrerseits bereits im Januar 2020 realisiert, dass ein grosses Problem auf die Spitäler zukomme. Dennoch habe es zahlreiche Aufforderungen gebraucht, bis das Gremium vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) zu einem ersten Gespräch eingeladen worden war. Zudem waren die Intensivmediziner vor Corona oft gar nicht in den Krisenstäben der Spitäler vertreten. All das habe dazu geführt, dass man immer alles unter enormem Druck organisieren musste, sagt er.

Arbeitskraftmangel befürchtet

Laut Fumeaux wüssten die meisten Menschen ohnehin nicht, was sie auf der Intensivstation erwartet und welche Verantwortung die Mitarbeiter dort tragen müssten. Auch stelle die Arbeit auf der Intensivstation eine hohe psychische Belastung dar. «Die Gefahr, dass jemand die IPS nicht lebend verlässt, ist relativ hoch», sagt er. Die Sterberate liege bei etwa fünf bis zehn Prozent.

Thierry Fumeaux ist Präsident der Stiftung für Intensivmedizin. Er kritisiert, dass die Schweiz unvorbereitet in die Pandemie gerast sei.
Foto: zVg
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Während der Pandemie kam dann auch noch die hohe Auslastung der Stationen hinzu. Idealerweise betrage die Auslastung auf der IPS etwa 75 Prozent, sagt Fumeaux. Beispielsweise bei einem schweren Verkehrsunglück könne es auch in normalen Zeiten Ausschläge nach oben geben – das sei jedoch nach ein paar Tagen wieder vorüber. Wenn aber über längere Zeit über 80 Prozent der Betten belegt seien, erhöhe sich damit die Belastung für das Personal und entsprechend auch die Sterblichkeit bei den Patienten.

Einfach die IPS-Plätze aufstocken, kann man laut Fumeaux nicht. Man könne zwar vorübergehend Leute abziehen, die normalerweise im Operationssaal oder bei der Anästhesie arbeiten – das gehe aber nicht über 24 Monate hinweg. Zudem habe es auch einmal die Idee gegeben, die Anzahl IPS-Betten in der Schweiz einfach auf 2000 hochfahren. Aber ein Bett mit Beatmungsgerät alleine nütze herzlich wenig, solange kein Arzt und keine Pflegende da sind, sagt er.

Viele haben den Job verlassen

Viele IPS-Pflegende sind in den letzten Monaten bereits aus dem Job ausgestiegen, sagt Fumeau. Er befürchtet, dass sich die Situation in den kommenden Jahren weiter verschlechtert. «Wir bilden in der Schweiz grundsätzlich zu wenige Ärzte aus», sagt er zur Zeitung. Und: Auch die Studenten würden zögern, in die Intensivmedizin zu gehen. Denn dort gäbe es viele Nachtschichten und Wochenenddienste – viele Jungen würden das nicht mehr wollen. Zudem kann die Intensivmedizin je nach Kanton und Spital auch weniger lukrativ sein als andere Bereiche.

Fumeaux ist Facharzt für Innere Medizin und Intensivmedizin. Er leitete bis vor einem Jahr die Abteilung für Innere Medizin des Spitals in Nyon VD und war Mitglied der wissenschaftlichen Covid-Task-Force des Bundes. 2021 wechselte der Romand zu einem Basler Biotechnologie-Unternehmen. (bra)

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