«Leider hatten wir keinen Erfolg mit unserem Antrag»
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SVP-Kantonsrat Michael Riboni:«Leider hatten wir keinen Erfolg mit unserem Antrag»

Leichte Beute dank geringem Interesse an Gemeindeversammlungen
Hände hoch! Und schon gewonnen

Gemeindeversammlungen? Dauern zu lange und sind langweilig. So die weitläufige Meinung – und wohl der Grund, warum sie schlecht besucht sind. Doch: Vereinen spielt die geringe Stimmbeteiligung in die Hände. Denn: Sie können sich so leicht aus der Gemeindekasse bedienen.
Publiziert: 14.01.2020 um 22:58 Uhr
|
Aktualisiert: 19.08.2020 um 09:01 Uhr
Michael Riboni, SVP-Lokalpolitiker, wollte mit einer Petition verhindern, dass Vereine dank guter Mobilisierung an Gemeindeversammlungen die Kassen der Gemeinden plündern können.
Foto: Thomas Meier
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Flavio Razzino

Sie gehört zum Schweizer Inventar wie Fondue, Edelweisshemd oder Geranien auf dem Fenstersims: die Gemeindeversammlung. Dort, wo man abends nach dem Znacht in einer Turnhalle zahlreich zusammenkommt. Mit hochgekrempelten Ärmeln diskutiert, streitet und schwitzt. Und am Ende per Handzeichen abstimmt. Ein Ort der gelebten Demokratie. Eigentlich.

Die Realität sieht heutzutage trister aus. Den Gemeindeversammlungen ist es in den vergangenen Jahrzehnten ergangen wie der Kirche. Immer weniger Menschen besuchen die Veranstaltungen, das Interesse an der Lokalpolitik ist gering.

Das belegt eine Studie von Andreas Ladner (61), Professor für Verwaltung und Politik an der Universität Lausanne. Das Ergebnis: Die Stimmbeteiligung nimmt stetig ab, im Normalfall entscheiden heute kaum mehr als fünf Prozent der Stimmberechtigten an einer Gemeindeversammlung über wichtige Geschäfte.

Vereine stürmen die Versammlungen

Was Politikwissenschaftler bedenklich finden, gefällt Vereinen und Interessengemeinschaften in den Gemeinden umso besser. Dank tiefer Stimmbeteiligung ist es für sie nämlich ein Leichtes, die Gemeindekassen zu plündern – und sie tun es fleissig.

So auch bei Gemeindeversammlung am 4. Dezember 2019 in Grenchen SO. Junge Männer, die man dort sonst noch nie gesehen hat, sitzen in grosser Zahl im Saal. Sie warten darauf, im richtigen Moment die Hand zu heben. Denn es sind Mitglieder oder Sympathisanten des FC Grenchen. Sie wollen Geld. Ziemlich genau 2,2 Millionen Franken aus der Gemeindekasse für einen neuen Kunstrasen.

Fussball-Front macht erfolgreich mobil

Zu viel Geld, finden die Gegner. Sie möchten, dass an der Urne über den Kunstrasen abgestimmt wird – wie 2011, als 60 Prozent Nein sagten. Doch in der Versammlung haben die Gegner keine Chancen gegen die Fussball-Front. Der FC Grenchen hat gut mobilisiert – unter anderem auf Facebook seine Mitglieder aufgefordert, an die Gemeindeversammlung zu gehen. Mit 159 Ja- zu 27 Nein-Stimmen werden die Millionen schliesslich gesprochen.

Nach der Abstimmung über ihren Fussballplatz steht ein Teil der Fussballer auf und verlässt die noch laufende Versammlung. «Dass einzelne Mitglieder danach gegangen sind, kann ich verstehen. Schliesslich dauern solche Versammlungen jeweils sehr lange», sagt Vereinspräsident Giovanni Eterno zu BLICK.

Vereine und Kulturschaffende nutzen die Schwäche im System

Ein ähnliches Bild im Oktober 2019 in Sissach BL: Auch hier gelingt es einem Komitee aus Sportvereinen, dank guter Mobilisierung die Gemeindekasse anzuzapfen. Wieder geht es um einen Kunstrasen, der für 640'000 Franken saniert werden soll. Das Komitee, angeführt von Jürg Chrétien (68), will jedoch mehr. Viel mehr. Konkret: 1,2 Millionen Franken. Damit gleich noch ein zweiter Platz gebaut werden kann. Auch sie haben Erfolg. Chrétien zu BLICK: «Gerade dafür gibt es ja eine Gemeindeversammlung: Man kann sich zusammentun und so für eine gemeinsame Sache kämpfen. Daran erkenne ich nichts Falsches!»

Zahlen zur Gemeindeversammlung

80 Prozent der Gemeinden in der Schweiz haben eine Gemeindeversammlung. Nur in der Westschweiz und im Tessin gibt es mehr Gemeindeparlamente als Gemeindeversammlungen. Rapperswil-Jona SG mit 27’000 Einwohnern und Baar ZG mit mehr als 21’000 Einwohnern sind die beiden grössten Gemeinden mit einer Gemeindeversammlung. Sonst haben Städte mit mehr als 20'000 Einwohnern in der Regel ein Parlament.

Aus gutem Grund: Je grösser die Gemeinde, desto tiefer die Stimmbeteiligung. Bei Kleinstgemeinden kann die Stimmbeteiligung bei 20 Prozent liegen – bei den grössten Gemeinden mit Versammlung bei weniger als drei Prozent. Am höchsten ist die Stimmbeteiligung in den Kantonen Waadt, Appenzell Innerrhoden und Tessin. Tief ist sie in den Kantonen Nidwalden, Zürich und Aargau. Flavio Razzino

80 Prozent der Gemeinden in der Schweiz haben eine Gemeindeversammlung. Nur in der Westschweiz und im Tessin gibt es mehr Gemeindeparlamente als Gemeindeversammlungen. Rapperswil-Jona SG mit 27’000 Einwohnern und Baar ZG mit mehr als 21’000 Einwohnern sind die beiden grössten Gemeinden mit einer Gemeindeversammlung. Sonst haben Städte mit mehr als 20'000 Einwohnern in der Regel ein Parlament.

Aus gutem Grund: Je grösser die Gemeinde, desto tiefer die Stimmbeteiligung. Bei Kleinstgemeinden kann die Stimmbeteiligung bei 20 Prozent liegen – bei den grössten Gemeinden mit Versammlung bei weniger als drei Prozent. Am höchsten ist die Stimmbeteiligung in den Kantonen Waadt, Appenzell Innerrhoden und Tessin. Tief ist sie in den Kantonen Nidwalden, Zürich und Aargau. Flavio Razzino

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In Thalwil ZH hatten Kulturschaffende den Braten gerochen: Obwohl die Gemeinde im nächsten Jahr ein Minus von 1,4 Millionen Franken erwartet, hat der Verein «Kultur Thalwil» im Dezember dank guter Mobilisierung eine Mehrheit zusammenbekommen. Die Versammlung beschliesst, dass die Gemeinde künftig mit zusätzlich 75'000 Franken die Kultur fördern muss.

Investitionen über 600'000 Franken sollen an die Urne

Für Michael Riboni (34), Vorstandsmitglied der SVP Baar, ist diese Selbstbedienungsmentalität der Vereine an Gemeindeversammlungen ein Problem. Seine Partei forderte darum in einer Motion, dass Investitionen über 600'000 Franken, die nur einem Verein dienen, in Baar ZG künftig automatisch an die Urne kommen sollen. «Damit sie demokratisch besser legitimiert sind und es eben keine Versuche gibt, Mehrheiten für Partikularinteressen zu organisieren», so Riboni.

Zuletzt hatte hier der FC Baar 1,45 Millionen Franken an der Gemeindeversammlung erhalten. Für ein Garderoben-Provisorium. «Auch sie haben gut mobilisiert», so Riboni. Er berichtet von grotesken Szenen: «Teilweise sind die Fussballer direkt vom Training noch im Sport-Dress an die Versammlung gekommen.»

Parlamente sind unbeliebt

Gemeindeversammlungen werden in der Regel schlecht besucht. Die Folge: Eine kleine Minderheit entscheidet über wichtige Fragen des öffentlichen Lebens. Gibt es keine Alternative? «Doch», sagt der Lausanner Politik-Professor Andreas Ladner (61): die Einführung eines Gemeindeparlaments. Und damit ein Systemwechsel von der direkten zur repräsentativen Demokratie. Bloss: Gemeindeparlamente sind auf ganzer Linie unbeliebt.

Nutzniesser der geringen Stimmbeteiligung bei Gemeindeversammlungen sind nämlich nicht nur Vereine, die so die Kassen plündern können. Sondern auch die Gemeinderäte selbst. «An Gemeindeversammlungen hat der Gemeinderat in der Regel immer einen Informationsvorsprung – was für interessierte Bürger sehr fordernd sein kann», so Ladner. Bei Gemeinden mit Parlament müsse sich der Gemeinderat hingegen viel häufiger rechtfertigen.

Gemeinderäte werben darum selten für die Einführung eines Parlaments. Tiefe Stimmbeteiligung an Gemeindeversammlungen? Ein Vertrauensbeweis für ihre Arbeit, kein Demokratiedefizit – so der Tenor.

Tatsächlich scheint es einfacher, ein Parlament zu kippen (so geschehen 2013 in Neunkirch SH), als ein neues zu schaffen. Zuletzt zeigte dass der Versuch in Horgen ZH – 70 Prozent der Stimmbürger lehnten die Parlamentspläne ab. Flavio Razzino

Gemeindeversammlungen werden in der Regel schlecht besucht. Die Folge: Eine kleine Minderheit entscheidet über wichtige Fragen des öffentlichen Lebens. Gibt es keine Alternative? «Doch», sagt der Lausanner Politik-Professor Andreas Ladner (61): die Einführung eines Gemeindeparlaments. Und damit ein Systemwechsel von der direkten zur repräsentativen Demokratie. Bloss: Gemeindeparlamente sind auf ganzer Linie unbeliebt.

Nutzniesser der geringen Stimmbeteiligung bei Gemeindeversammlungen sind nämlich nicht nur Vereine, die so die Kassen plündern können. Sondern auch die Gemeinderäte selbst. «An Gemeindeversammlungen hat der Gemeinderat in der Regel immer einen Informationsvorsprung – was für interessierte Bürger sehr fordernd sein kann», so Ladner. Bei Gemeinden mit Parlament müsse sich der Gemeinderat hingegen viel häufiger rechtfertigen.

Gemeinderäte werben darum selten für die Einführung eines Parlaments. Tiefe Stimmbeteiligung an Gemeindeversammlungen? Ein Vertrauensbeweis für ihre Arbeit, kein Demokratiedefizit – so der Tenor.

Tatsächlich scheint es einfacher, ein Parlament zu kippen (so geschehen 2013 in Neunkirch SH), als ein neues zu schaffen. Zuletzt zeigte dass der Versuch in Horgen ZH – 70 Prozent der Stimmbürger lehnten die Parlamentspläne ab. Flavio Razzino

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Gefahr der Unterwanderung

Der SVP-Mann betont, dass er eigentlich ein Verfechter von Gemeindeversammlungen sei: «Es ist die direkteste Art der Demokratie.» Aber die Schwächen seien augenscheinlich: «Wegen der viel zu geringen Stimmbeteiligung besteht die Gefahr, dass Vereine oder Gruppierungen zu leicht Geld für eigene Interessen aus der Gemeindekasse holen können.»

Auch Politik-Professor Ladner sieht Schwächen bei der Gemeindeversammlung. Die geringe Stimmbeteiligung, aber auch das fehlende Stimmgeheimnis sieht er kritisch. «Nicht alle können vor vielen Leuten aufstehen und ihre Meinung kundtun. Entweder aus Angst, sich damit unbeliebt zu machen, oder weil der Mut fehlt, zu sprechen», sagt er. Dasselbe gelte bei Abstimmungen durch Handaufheben: «Da muss sich der Metzger gut überlegen, ob er wirklich gegen die Mehrheit stimmen will. Geht er doch das Risiko ein, dass er tags darauf dann weniger Kunden in seinem Laden hat.»

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