«Gegen Semesterende bin ich gestresst»
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Wir fühlen uns überfordert:«Gegen Semesterende bin ich gestresst»
  • Viele Schweizerinnen und Schweizer sind besorgt
  • Ein Drittel wünscht sich mehr Umarmungen
  • Natur und Paarbeziehungen geben Kraft

Neue Studie zu unserem Wohlbefinden zeigt
Ältere sind entspannt, Junge erschöpft

Eine neue Studie zeigt, dass Gefühle der Überforderung bei Schweizerinnen und Schweizern verbreitet sind. Aber auch, woraus sie Kraft schöpfen.
Publiziert: 28.08.2022 um 00:25 Uhr
|
Aktualisiert: 30.08.2022 um 14:22 Uhr
Dana Liechti
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Wie geht es Ihnen? Gut, so lala oder eigentlich ziemlich mies? Wenn Letzteres zutrifft, Sie es aber lieber nicht laut aussprechen, sind Sie kein Einzelfall. Hierzulande werden Emotionen – insbesondere negative – oft verhüllt. Wie verbreitet das Phänomen ist, macht jetzt eine repräsentative Studie deutlich, die das Forschungsinstitut Sotomo im Auftrag der Krankenversicherung Helsana auf der Website Blick.ch durchgeführt hat und an der 5554 Personen über 18 Jahre teilgenommen haben. Demnach gibt jede vierte Person an, ihr gehe es «okay» oder «mittelmässig» – bei genauerem Nachfragen wird aber deutlich, dass sie fast ausschliesslich negative Emotionen wie Stress oder Erschöpfung erlebt. Insgesamt zeigt die Befragung, dass die Stimmung in der Schweiz durchzogen ist. Viele Menschen sind zwar zufrieden (41 Prozent), ebenso häufig sind aber Gefühle der Überforderung: 39 Prozent sind erschöpft, knapp 30 Prozent gestresst und 38 Prozent besorgt.

Leandra Columberg (22)

«Mir geht es eigentlich ziemlich gut. Stress verursacht bei mir manchmal, meine verschiedenen Verpflichtungen wie Studium, Politik und Job zu koordinieren. Mit Planung und Ausgleich kann ich damit aber meist gut umgehen. Es überrascht mich nicht, dass heutzutage viele junge Menschen belastet sind – die Anforde­rungen an junge Arbeitskräfte sind sehr hoch. Viele Betriebe erwarten dauernde Erreichbarkeit, manche Vorgesetzte schicken am Feierabend noch Nachrichten, das ist nicht in Ordnung. Gerade Frauen ­leisten ausserdem oft überdurchschnittlich viel Sorgearbeit, kümmern sich um Per­sonen in Familie oder Umfeld. Dass viele junge Menschen Zukunftsängste haben, ist völlig nachvollziehbar, wir leben in einer Zeit von multiplen Krisen. Da verzweifelt man schnell. Es ist sehr belastend, dass gegen reale Probleme wie die Klimakrise, die uns stark betreffen wird, kaum etwas unternommen wird und die eigene Zukunft generell von vielen Unsicherheiten geprägt ist.»

«Mir geht es eigentlich ziemlich gut. Stress verursacht bei mir manchmal, meine verschiedenen Verpflichtungen wie Studium, Politik und Job zu koordinieren. Mit Planung und Ausgleich kann ich damit aber meist gut umgehen. Es überrascht mich nicht, dass heutzutage viele junge Menschen belastet sind – die Anforde­rungen an junge Arbeitskräfte sind sehr hoch. Viele Betriebe erwarten dauernde Erreichbarkeit, manche Vorgesetzte schicken am Feierabend noch Nachrichten, das ist nicht in Ordnung. Gerade Frauen ­leisten ausserdem oft überdurchschnittlich viel Sorgearbeit, kümmern sich um Per­sonen in Familie oder Umfeld. Dass viele junge Menschen Zukunftsängste haben, ist völlig nachvollziehbar, wir leben in einer Zeit von multiplen Krisen. Da verzweifelt man schnell. Es ist sehr belastend, dass gegen reale Probleme wie die Klimakrise, die uns stark betreffen wird, kaum etwas unternommen wird und die eigene Zukunft generell von vielen Unsicherheiten geprägt ist.»

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«Das Ausmass der schlechten Befindlichkeit und insbesondere der Erschöpfung hat uns überrascht», sagt Sotomo-Projektleiterin und Studienautorin Anna John. Die Gründe für die bedrückte Stimmung sind mannigfaltig. Am häufigsten wurde die Weltlage genannt. Diese betrübt jedoch vor allem jene, die sich grundsätzlich einer positiven emotionalen Grundstimmung erfreuen. Bei Personen in schlechter Gemütsverfassung hat die Erschöpfung oft eine andere Ursache: die Arbeit. «Wir leben in einer Leistungsgesellschaft», sagt Anna John. «Das schlägt sich auch aufs Verhältnis zur beruflichen Tätigkeit nieder.»

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Allerdings ist die Arbeit nicht nur ein Problem. Anna John: «Menschen, die sich als fröhlich bezeichnen, empfinden die Arbeit häufig sogar als Ressource positiver Gefühle.» Unterschiede zeigen sich bei Männern und Frauen: Während sich je 28 Prozent der Männer und Frauen auf der Arbeit erschöpft fühlen, sind es bei den Frauen auch in der Freizeit noch 27 Prozent, bei den Männern 19 Prozent. «Hier scheint die Doppelbelastung durch bezahlte Arbeit und Hausarbeit, welche Frauen noch immer stärker betrifft, eine Rolle zu spielen», sagt John.

Ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer wünschen sich mehr Umarmungen.
Foto: Keystone
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Leistungs- und Optimierungsdenken

Generell zeigt sich, dass Frauen mehr negative Gefühle erleben als Männer. Allen voran die jungen: 71 Prozent der Frauen zwischen 18 und 24 Jahren fühlen sich erschöpft, mehr als die Hälfte gestresst und 42 Prozent traurig. Bei den Männern über 64 sind gerade mal zwölf Prozent erschöpft und fünf Prozent gestresst.

«Das Ausmass der Erschöpfung hat uns überrascht»
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Sotomo-Projektleiterin:«Das Ausmass der Erschöpfung hat uns überrascht»

«Die Studie bringt einen Zustand kollektiver Erschöpfung der jungen Menschen und insbesondere der jungen Frauen in der Schweiz zum Ausdruck», formuliert Anna John ihr Fazit. Das habe verschiedene Ursachen. Einerseits seien junge Erwachsene stark von Leistungs- und Optimierungsgedanken geprägt. Verschiedene Studien während der Pandemie kamen zum Schluss, dass es gerade jungen Menschen psychisch zunehmend schlechter ging. «Nun sehen wir, dass sie sich trotz Aufhebung der Massnahmen nicht erholt haben.»

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Julia Zwahlen (23)

«Ich bin recht gestresst. Mein ­Leben ist voll. Die Anforderungen in der Gesellschaft sind hoch. Es gibt zig Möglichkeiten und gefühlt die Erwartung, dass man sie alle nutzt und man immer funktioniert. Eigentlich möchte ich Erlebnisse gerne richtig verarbeiten, aber dafür gibt es im Alltag kaum Raum. Die Erschöpfung löst bei mir manchmal Selbstzweifel aus. Ich habe den Eindruck, dass das, was mich ausmacht, keinen hohen Stellenwert hat in der Gesellschaft. Gerade weibliche Eigenschaften – die sowohl Frauen als auch Männer haben – werden nicht geschätzt. Ich lerne aber immer mehr, dass ich mich als Frau nicht an diesen Massstäben orientieren muss, nicht immer mithalten, taff und extrovertiert sein muss. Was mir hilft, ist die Natur und mich auszutauschen mit anderen Frauen. Und Körpertherapie. Immer mehr Menschen suchen therapeutische Hilfe – ich finde es schwierig, dass sie da­rum als schwach angesehen werden. Das Problem liegt nicht bei den Menschen, sondern unserem auf Leistung aufgebauten System, das oft unmenschlich ist.»

«Ich bin recht gestresst. Mein ­Leben ist voll. Die Anforderungen in der Gesellschaft sind hoch. Es gibt zig Möglichkeiten und gefühlt die Erwartung, dass man sie alle nutzt und man immer funktioniert. Eigentlich möchte ich Erlebnisse gerne richtig verarbeiten, aber dafür gibt es im Alltag kaum Raum. Die Erschöpfung löst bei mir manchmal Selbstzweifel aus. Ich habe den Eindruck, dass das, was mich ausmacht, keinen hohen Stellenwert hat in der Gesellschaft. Gerade weibliche Eigenschaften – die sowohl Frauen als auch Männer haben – werden nicht geschätzt. Ich lerne aber immer mehr, dass ich mich als Frau nicht an diesen Massstäben orientieren muss, nicht immer mithalten, taff und extrovertiert sein muss. Was mir hilft, ist die Natur und mich auszutauschen mit anderen Frauen. Und Körpertherapie. Immer mehr Menschen suchen therapeutische Hilfe – ich finde es schwierig, dass sie da­rum als schwach angesehen werden. Das Problem liegt nicht bei den Menschen, sondern unserem auf Leistung aufgebauten System, das oft unmenschlich ist.»

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Auch die aktuelle Lage in der Ukraine dürfte ihren Einfluss haben, sagt Joëlle Gut, die als Psychologin besonders mit jungen Menschen zusammenarbeitet. «Erschwerend kommt hinzu, dass es von psychotherapeutischer Seite aufgrund der grossen Nachfrage viel zu wenige Therapieplätze gibt.»

Alice Lüps (64)

«Ich bin frisch pen­sioniert. Ich geniesse es, nicht mehr immer mit dem Wecker aufstehen zu müssen. Andererseits fallen nun auch soziale Kontakte und Strukturen weg. Ich muss lernen, damit umzugehen. ­Alles in allem bin ich aber zufrieden. Wenn es mir mal nicht gut geht, setze ich mich aufs Velo und fahre irgendwohin. Oder ich versuche, mich mit jemandem zu verabreden. Und ich spiele Theater, das ist für mich sehr gesundheitsfördernd. Kürzlich ist meine Liebe in die Brüche gegangen. Das tut genauso weh wie mit 20. Was andere ­Dinge angeht, bin ich etwas gelassener geworden. Früher war ich mit Wucht dabei, wenn es um Demons­trationen gegen AKW oder Ähnliches ging. Heute hauen mich die Emotionen nicht mehr so um. Sorgen mache ich mir hingegen wegen des Kriegs und der politischen Situation, vor ­allem was unser Asylwesen angeht. Da versuche ich, als freiwillige Helferin im Kleinen meinen Beitrag zu leisten. Ich hoffe, das kann ich noch lange tun.»

«Ich bin frisch pen­sioniert. Ich geniesse es, nicht mehr immer mit dem Wecker aufstehen zu müssen. Andererseits fallen nun auch soziale Kontakte und Strukturen weg. Ich muss lernen, damit umzugehen. ­Alles in allem bin ich aber zufrieden. Wenn es mir mal nicht gut geht, setze ich mich aufs Velo und fahre irgendwohin. Oder ich versuche, mich mit jemandem zu verabreden. Und ich spiele Theater, das ist für mich sehr gesundheitsfördernd. Kürzlich ist meine Liebe in die Brüche gegangen. Das tut genauso weh wie mit 20. Was andere ­Dinge angeht, bin ich etwas gelassener geworden. Früher war ich mit Wucht dabei, wenn es um Demons­trationen gegen AKW oder Ähnliches ging. Heute hauen mich die Emotionen nicht mehr so um. Sorgen mache ich mir hingegen wegen des Kriegs und der politischen Situation, vor ­allem was unser Asylwesen angeht. Da versuche ich, als freiwillige Helferin im Kleinen meinen Beitrag zu leisten. Ich hoffe, das kann ich noch lange tun.»

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Alter bringt Gelassenheit

Dass insbesondere junge Frauen sehr erschöpft sind, erstaunt die Soziologin und Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach nicht. Diese seien mit den Versprechen der Emanzipation sozialisiert worden. Gleichzeitig seien traditionelle Vorstellungen wie jene der perfekten Hausfrau in der Schweiz stark verankert. «Frauen sollen Karriere machen, gleichzeitig Mutter und Hausfrau sowie sexuell verfügbar sein – und leiden enorm darunter, all diesen Rollen entsprechen zu müssen. Schon bevor sie selbst Kinder kriegen.» Zudem müssten Frauen karrieretechnisch heute noch ein Vielfaches leisten, um dasselbe zu erreichen wie ein Mann. Für Schutzbach ist klar: Besserung würde nur echte Gleichstellung bringen.

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Monika Horowitz (66)

«Ich kann nicht klagen – mir geht es super. Ich habe Zeit für Dinge, die mir guttun. Zum Beispiel mit Freunden ein Fussballspiel schauen oder schwimmen gehen. Ich bin jeden Tag draussen. Meine Tochter hat Hunde, mit ­denen ich oft spazieren gehe, das motiviert mich. Und ich bin viel in meinem Familiengarten. Gärtnern ist für mich das Beste gegen Stress, das war schon so, als ich noch arbeitete. Ich brauche nicht mehr so viel, um ­zufrieden zu sein. Natürlich ist auch bei mir nicht immer alles eitel Sonnenschein. Ich spüre schon auch eine Grundtraurigkeit, etwa was die Lage in der Ukraine angeht. Auch die Klimaveränderung und die gesellschaftliche Entwicklung machen mir Sorgen. Aber ich bin an einen Punkt gekommen, an dem ich sagen kann: Es gibt Dinge, die ich nicht wirklich beeinflussen kann. Das muss ich akzeptieren. Lässt mich etwas mal nicht los, fresse ich es aber nicht in mich rein, sondern tausche mich mit Freundinnen und Freunden aus, die sich oft in ähnlichen Situationen befinden.»

«Ich kann nicht klagen – mir geht es super. Ich habe Zeit für Dinge, die mir guttun. Zum Beispiel mit Freunden ein Fussballspiel schauen oder schwimmen gehen. Ich bin jeden Tag draussen. Meine Tochter hat Hunde, mit ­denen ich oft spazieren gehe, das motiviert mich. Und ich bin viel in meinem Familiengarten. Gärtnern ist für mich das Beste gegen Stress, das war schon so, als ich noch arbeitete. Ich brauche nicht mehr so viel, um ­zufrieden zu sein. Natürlich ist auch bei mir nicht immer alles eitel Sonnenschein. Ich spüre schon auch eine Grundtraurigkeit, etwa was die Lage in der Ukraine angeht. Auch die Klimaveränderung und die gesellschaftliche Entwicklung machen mir Sorgen. Aber ich bin an einen Punkt gekommen, an dem ich sagen kann: Es gibt Dinge, die ich nicht wirklich beeinflussen kann. Das muss ich akzeptieren. Lässt mich etwas mal nicht los, fresse ich es aber nicht in mich rein, sondern tausche mich mit Freundinnen und Freunden aus, die sich oft in ähnlichen Situationen befinden.»

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Zurück zur allgemeinen Stimmungslage im Land: Am wenigsten Stress- und Erschöpfungsgefühle erleben die Seniorinnen und Senioren. Ein Grund dafür dürfte die Pension sein: «Dadurch haben die Menschen mehr Zeit zur Verfügung und sind weniger Leistungsanforderungen ausgesetzt», erklärt Studienautorin John. Gleichzeitig entwickle man mit zunehmendem Alter eine gewisse Gelassenheit, «vor allem was den Umgang mit eigenen Emotionen angeht».

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Was aber hilft, wenns mal schwer ist? Am meisten Kraft schöpft man hierzulande in der Natur, in Paarbeziehungen und Freundschaften. Auch körperliche Nähe kann helfen – wenn sie erwünscht ist. Ein Drittel der Befragten sehnt sich nach mehr Umarmungen. Keine schlechte Idee: Laut Joëlle Gut ist es wichtig, sich wieder an eine in der Pandemie verlernte emotionale und körperliche Nähe heranzutasten. Und Herr und Frau Schweizer würden gut daran tun, offener über Gefühle zu sprechen. Damit das gelingt, rät die Psychologin, direktere Fragen zu stellen. Also: «Wie geht es Ihnen wirklich?»

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