«Es wird nicht genau kontrolliert»
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Fragwürdige IV-Gutachten:«Es wird nicht genau kontrolliert»

Thomas W. und N.T.B. verlieren nach zweifelhaften IV-Gutachten ihre Existenzgrundlage
«So etwas macht dein Leben zur Hölle»

Ein einzelnes Gespräch und schon ist das Geld weg – gleich zwei dokumentierte Fälle zeigen, wie falsche oder zumindest fragwürdige IV-Gutachten Existenzen fast zerstört haben. Brisant: Hinter beiden Gutachten steckt die gleiche Firma. Es laufen mehrere Strafverfahren.
Publiziert: 11.06.2022 um 00:21 Uhr
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Aktualisiert: 07.06.2023 um 17:25 Uhr
Sven Ziegler und Tobias Ochsenbein

Die Fassungslosigkeit ist Thomas W.* (67) noch immer anzumerken. Während er seine Geschichte erzählt, wechselt seine Stimmung von Wut in Trauer. «Es ist auch Jahre später für mich noch immer unbegreiflich, wie ein einziges Gutachten, eine halbe Stunde Reden, dein Leben zur Hölle machen kann», sagt W. Sein Fall ist gut dokumentiert. Alle Belege liegen Blick vor.

Vier Jahre alt ist er, als er eine Kinderlähmung erleidet. Lange Jahre beeinträchtigen ihn die Spätfolgen nicht. Im Januar 2015 ändert sich das. Täglich hat W. Schmerzen, kann nicht mehr lange auf den Beinen bleiben. Ständig ist er müde. Ein Neurologe stellt fest: W. leidet unter einem Post-Polio-Syndrom, einer Muskelschwäche und chronischer Ermüdung. Er gilt nun als «vermindert leistungsfähig» und kann nicht mehr arbeiten.

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Plötzlich kein Geld mehr

W. meldet sich deshalb bei der IV und der Taggeldversicherung an. Damit er das Geld erhält, wird er für ein Gutachten zur Firma PMEDA und zum Arzt Henning Mast geschickt. «Die Begutachtung war ein Witz», sagt W. heute. Mast habe das Gutachten aufgrund eines Gesprächs von etwa 30 Minuten erstellt.

Thomas W. (67) leidet unter einem Post-Polio-Syndrom.
Foto: STEFAN BOHRER
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Einen Monat später erhält er das Gutachten. W. sei zu «100 Prozent» arbeitsfähig, eine angepasste Tätigkeit sei «nicht notwendig», heisst es darin. «Mich traf fast der Schlag», erinnert er sich.

Die Folgen sind gravierend: W. wird im Januar 2016 das gesamte Geld gestrichen. Nur sein Erspartes und die Unterstützung seiner Familie und Freunde halten ihn ein Jahr lang über Wasser. Dass man als erwachsener Mensch durchgefüttert werden müsse, sei entwürdigend gewesen. «Das Gutachten von Mast hat beinahe mein Leben ruiniert. Mein Leben wurde zur Hölle», sagt W.

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Mindestens fünf Strafverfahren

Thomas W. zieht vor Gericht. Sein Anwalt will ein weiteres Gutachten. Über Wochen hinweg wird W. von fünf Ärzten untersucht. Der Befund am Ende ist eindeutig: «Unsere Beurteilung steht im Widerspruch zur Beurteilung von Herrn Prof. Mast», kommen die Ärzte zum Schluss. W. sei stark eingeschränkt und sei für «körperlich anspruchsvolle» Aufgaben nicht mehr geeignet. Das Fazit: Man könne meinen, Mast habe einen anderen Patienten vor sich gehabt.

Die Begutachtung zeigt Wirkung. Das Gericht verurteilt die Taggeldversicherung Anfang Juli 2017 zu einer rückwirkenden Zahlung der Taggelder.

IV-Gutachter Mast gerät immer wieder in die Schlagzeilen, gegen seine Firma PMEDA laufen mindestens fünf Strafverfahren im Kanton Zürich. Wie viele es genau sind, teilt die Staatsanwaltschaft nicht mit. Eines der Verfahren sei aber «weit fortgeschritten».

Weil die IV-Gutachter eine Beamtenstellung einnehmen, muss die Staatsanwaltschaft zuerst Ermächtigungsentscheide bei den Gerichten einholen. Deswegen konnten die Vorwürfe lange Zeit nicht untersucht werden.

Darum dauert das Verfahren gegen PMEDA so lange

Die Begutachtung eines IV-Falls wird von der IV-Stelle des jeweiligen Kantons in Auftrag gegeben. Dabei werden die Gutachter mittels eines Zufallsverfahrens ausgewählt. Weil die Begutachtung eine öffentlich-rechtliche Aufgabe ist, erhalten die Gutachter einen Status als Beamte.

In diesem Status sind sie vor mutwilliger Strafverfolgung geschützt. Um mögliche Gesetzesverstösse oder Unsauberkeiten genauer zu untersuchen, muss die Staatsanwaltschaft deshalb ein sogenanntes Ermächtigungsgesuch stellen. Anschliessend entscheidet das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, ob gegen den Gutachter überhaupt ermittelt werden darf. Solche Entscheide können mitunter sehr lange dauern.

Mittlerweile liegen die Ermächtigungsentscheide in den Verfahren gegen die Firma PMEDA vor. Die Untersuchungen laufen, gestalten sich aber teilweise komplex. Weitere Angaben machte die Staatsanwaltschaft Zürich nicht.

Die Begutachtung eines IV-Falls wird von der IV-Stelle des jeweiligen Kantons in Auftrag gegeben. Dabei werden die Gutachter mittels eines Zufallsverfahrens ausgewählt. Weil die Begutachtung eine öffentlich-rechtliche Aufgabe ist, erhalten die Gutachter einen Status als Beamte.

In diesem Status sind sie vor mutwilliger Strafverfolgung geschützt. Um mögliche Gesetzesverstösse oder Unsauberkeiten genauer zu untersuchen, muss die Staatsanwaltschaft deshalb ein sogenanntes Ermächtigungsgesuch stellen. Anschliessend entscheidet das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, ob gegen den Gutachter überhaupt ermittelt werden darf. Solche Entscheide können mitunter sehr lange dauern.

Mittlerweile liegen die Ermächtigungsentscheide in den Verfahren gegen die Firma PMEDA vor. Die Untersuchungen laufen, gestalten sich aber teilweise komplex. Weitere Angaben machte die Staatsanwaltschaft Zürich nicht.

Mehr

Henning Mast kann daher weiter Gutachten durchführen. Obwohl sogar der Bund Mast bereits einschränken musste, erhält er weiter Begutachtungsaufträge. Denn ein Strafverfahren bedeutet nicht auch automatisch, dass tatsächlich strafbare Handlungen vorliegen. Deswegen gilt für Mast und alle Mitarbeiter auch die Unschuldsvermutung.

2020 vergütete die IV der PMEDA 2,9 Millionen Franken für 262 Aufträge, teilen die Behörden auf Anfrage von Blick mit. «Das entspricht im Durchschnitt etwa 11'000 Franken pro polydisziplinärem Gutachten, an dem drei Fachärzte oder mehr beteiligt sind», so das Bundesamt für Sozialversicherungen.

Kein Einzelfall

Thomas W. ist kein Einzelfall. Auch N.T.B.* (46) muss nach einem Gutachten von PMEDA um sein Taggeld kämpfen. 2001 erleidet er einen schweren Unfall, die Folgen sind gravierend. Er leidet an schwerer Migräne, muss Medikamente nehmen. 2014 stellen Ärzte der Hirslanden-Klinik fest, dass er künftig zu 100 Prozent arbeitsunfähig sein wird.

2015 wird auch er zu PMEDA geschickt. «Das Gespräch wurde nicht mal von Mast selbst durchgeführt», sagt er.

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Behörden krebsen teilweise zurück

N.T.B. sagt, es seien mehrere relevante Abklärungen nicht gemacht worden. Trotzdem attestiert PMEDA: Der Patient ist arbeitsfähig. Die Taggeldversicherung reagiert, streicht ihm die Gelder. In der Folge muss der alleinerziehende Vater anderthalb Jahre ohne Job und Einkommen leben.

2017 hinterfragt die IV-Stelle des Kantons das Gutachten. Sie gibt ein neues in Auftrag. Das Ergebnis ist eindeutig. Die körperlichen Untersuchungsbefunde des PMEDA-Untersuchs seien «zumindest bemerkenswert und nur schwer erklärbar». Und: «Obwohl damals von den Begutachtern eine Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nicht vorgenommen wurde und auch eine weitere Abklärung stationär als notwendig und empfehlenswert erachtet wurde, stellte der zuständige Taggeldversicherer im Anschluss an die erwähnte Begutachtung die Leistungen ein.»

Aufgrund dieses neuen Gutachtens krebsen die Behörden zumindest teilweise zurück. Die IV zahlt seit 2017 eine Viertelrente.

«So etwas darf nie mehr vorkommen»

Das Bundesamt für Sozialversicherungen, das für die Aufsicht über die Gutachterstellen verantwortlich ist, hält trotz laufender Strafverfahren weiter an der Zusammenarbeit mit der Firma PMEDA fest. Erst, wenn eine strafrechtliche Verurteilung der verantwortlichen Personen vorliege oder die Qualität der Gutachten nicht ausreichend sei, beende man die Zusammenarbeit.

Gerne hätte Blick auch von der Firma PMEDA und Arzt Henning Mast eine Stellungnahme erhalten. Doch sowohl telefonische als auch zwei schriftliche Anfragen mit einem Fragenkatalog bleiben unbeantwortet.

N.T.B. sagt, heute arbeite er wieder, aber nur aufgrund einer hohen Medikamentendosis – und mache die Faust im Sack. «Denn irgendwann gibt man einfach auf, weil man gegen die Mühlen der Versicherungen nicht ankämpfen kann.»

Auch Thomas W. ist überzeugt, dass sich bei den IV-Gutachtern einiges ändern müsse. Denn: «Mit falschen Gutachten zerstört jemand deine Existenz. So etwas darf nie mehr vorkommen.»

* Namen geändert

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