Wer Joe Biden wirklich ist
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Spurensuche in Delaware:Wer Joe Biden wirklich ist

«Er kommt mit mir zur Messe»: SonntagsBlick auf Spurensuche in Delaware und Pennsylvania
Wer Joe Biden wirklich ist

Joe Biden steht vor der Wahl ins Weisse Haus. Wer ist dieser Mann, der am Dienstag Donald Trump schlagen soll? SonntagsBlick hat sich in seiner Heimat umgehört.
Publiziert: 31.10.2020 um 21:08 Uhr
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Aktualisiert: 02.11.2020 um 16:50 Uhr
Joe Biden (77) könnte am Dienstag zum neuen US-Präsidenten gewählt werden.
Foto: AFP
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Nicola Imfeld aus Wilmington (USA)

Greenville, Delaware: Es regnet seit Stunden, Wasserlachen haben sich auf der engen Waldstrasse gebildet, der Wind entreisst den Bäumen die verfärbten Herbstblätter. Tristesse pur im 3000-Seelen-Dorf, das an Delawares grösste Stadt Wilmington grenzt. Auf einem Hügel lichtet sich der Wald etwas, ein halbes Dutzend schwarze SUVs tauchen am rechten Strassenrand zwischen den Bäumen auf. Links davon eine Mauer, davor ein Schild: 1209 Barley Mill Rd.

«Jetzt sofort stehen bleiben», ruft ein Mann mit ernster Miene. Hinter ihm zwei Männer, beide in schwarze Mäntel gehüllt. «Secret Service, was tun Sie hier?» Die Agenten bewachen die 1-Millionen-Dollar-Mansion von Joe Biden (77), ein herrschaftliches Anwesen, das er im Jahr 1994 erworben hatte. Hier hat der demokratische Präsidentschaftskandidat im Sommer in seinem Keller die Nominierung seiner Partei angenommen. Und hier kommt heute, nur wenige Tage vor dem Wahltag, niemand durch.

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«Joe Biden kommt mit mir zur Messe»

Sieben Kilometer südlich, Saint Joseph Church, Wilmington: «Da spreche ich jeweils mit Joe Biden nach der Messe», sagt Ed Weirauch (60) und zeigt auf den Eingang der Kirche. Etwa einmal im Monat erscheint der ehemalige Vizepräsident zum Gottesdienst, betet Seite an Seite mit Weirauch. «Egal, ob Senator, Vizepräsident oder Präsidentschaftskandidat – Joe kommt regelmässig», sagt er.

Eine Begegnung hat Weirauch besonders beeindruckt. «Es war 7 Uhr morgens, kaum jemand war da», erinnert er sich. «Plötzlich tauchte Joe Biden mit seiner ganzen Familie auf.» Weirauch findet im Gespräch heraus, dass es der Todestag von Bidens erster Frau Neilia und seiner Tochter Naomi ist. «Jedes Jahr am 18. Dezember kommen sie zur Messe – auch jetzt Jahrzehnte nach der Tragödie.» Das hat Weirauch endgültig bewiesen, dass Biden trotz des harten Polit-Geschäfts in Washington ein «aufrichtiger und guter Mensch geblieben» sei.

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Wie Biden Frau und Kind verlor

Die tragische Familiengeschichte der Bidens kennt in Wilmington jeder. Es ist der 18. Dezember 1972, Montag vor Weihnachten: Frau Neilia will mit den drei Kindern den Christbaum abholen, Gatte Joe richtet in Washington D.C. sein Büro ein – Wochen zuvor schaffte er als fünftjüngster Mann in der amerikanischen Geschichte die Wahl in den Senat. Voller Euphorie ist der damals 30-Jährige – dann klingelt sein Telefon.

Ein Traktor hatte das Familienauto auf dem Rückweg gerammt, Frau Neilia (†30) und die 13 Monate alte Tochter Naomi kommen beim Unfall ums Leben. Die Söhne Beau und Hunter werden schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Der Vater eilt nach Hause, dachte bereits auf dem Rückweg an den Rücktritt aus der Politik, sogar an Suizid. Doch wenige Tage später schwört Biden am Spitalbett seiner Söhne den Eid als US-Senator – Tränen kullern ihm über die Wangen.

In den folgenden 46 Jahren pendelt Biden täglich mit dem Zug zwischen Wilmington und Washington D.C., tauscht sich während der 75-minütigen Fahrt mit seinen Mitreisenden aus. Eines Abends trifft auch Ed Weirauch auf den damaligen Senator, der sich gerade von einem lebensbedrohlichen Gehirn-Aneurysma erholt. «Ich habe in meiner Kindheit auch dem Tod ins Auge geblickt und sage zu Joe, dass er ein Vorbild für mich sei.» Die beiden quatschen minutenlang.

In Scranton machte Biden die ersten Schritte

Scranton, Pennsylvania, drei Autostunden von Wilmington entfernt: «Joe Biden ist ein aufrichtiger, bodenständiger Mann», sagt Jim Connors (73), ehemaliger Bürgermeister der Stadt. Der Rentner kennt den Demokraten seit Jahrzehnten, steht in regelmässigem Kontakt. «Er ist einer von uns. Anders als Donald Trump hatte er weder Millionen noch Zugang zu einer Top-Universität», sagt Connors voller Stolz. Die Männer verbindet mehr als nur die Heimat – beide teilten in den 1970er-Jahren das Schicksal, auf einen Schlag alleinerziehende Väter zu werden. «Er hat mich angerufen, aufgemuntert und gesagt, dass ich das schaffen werde», erinnert sich Connors an ein Telefongespräch zurück.

Scranton war Bidens erste Heimat. Als Zehnjähriger verliess er die damalige Industriestadt, als sein Vater einen Job bei Chevrolet erhielt. «Joes Papa verliess uns, als die Sache schwierig wurde. Und Joe kam dann nie mehr zurück. In Washington hat er nichts für uns getan», sagt Automechaniker Mark Pane (55), der für Trump stimmen wird. Die meisten Scrantonions sehen das anders. Letzten Umfragen zufolge wollen hier über 75 Prozent Joe Biden im Weissen Haus sehen.

«Joe bleibt in Delaware einfach der Joe»

Wilmington, Delaware: Der Regen lässt nicht nach. Die Gärten in den Vororten der Stadt sind durchnässt, teilweise bildet sich Schlamm. Die Menschen haben sich in den eigenen vier Wänden verkrochen, die Häuser frisch für das Halloween-Fest geschmückt. Neben den Kürbissen tauchen immer wieder Biden-Fahnen und -Schilder auf. «Joe hat hier vermutlich jedem schon die Hand geschüttelt», sagt Ed Weirauch. «Er hat diese einzigartige Fähigkeit, sich wirklich auf das Gegenüber zu konzentrieren. Nach einem Gespräch hat man das Gefühl, dass man Joe jetzt kennt.»

Scheinbar ganz Wilmington drückt Biden am Dienstag die Daumen, dass er seine politische Karriere krönen und Trump schlagen wird. Weirauch wird seinen Stimmzettel am Wahltag bei jener Kirche in die Urne werfen, wo er Biden regelmässig sieht. «Joe wird ein hervorragender Präsident sein, weil er an uns alle denkt», sagt er. Dass Weirauch dann künftig mit dem US-Präsidenten in der Messe sitzen könnte, ist ihm egal. «Für uns ändert sich nichts. Joe bleibt in Delaware einfach der Joe.»

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