«Ich wache jeden Morgen mit dieser tollen Aussicht auf»
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Olga Likhovas Wohnung in Bern:«Ich wache jeden Morgen mit dieser tollen Aussicht auf»

Die bewegende Geschichte von Ukraine-Star Olga Lyakhova
Sie musste sich mit ihrem Baby in der Badewanne verstecken

Sie entkam dem russischen Überfall. Im Krieg starb ihre Oma. Ihr Vater (56) muss wohl bald an die Front. Weltklasse-Leichtathletin Olga Lyakhova über den Horror in ihrer ukrainischen Heimat und ihr neues Leben in der Schweiz.
Publiziert: 18.07.2022 um 01:21 Uhr
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Aktualisiert: 18.07.2022 um 09:06 Uhr
Emanuel Gisi (Text) und Benjamin Soland (Fotos und Video)

Vor ein paar Wochen stellt sich Olga Lyakhova (30) Fragen, über die sie in ihrem Leben noch nie auch nur eine Sekunde nachgedacht hat. Wo versteckt man sich, wenn in der ganzen Umgebung die Sirenen des Luftalarms heulen? Was packt man ein, wenn man vor dem Krieg flieht? Und vor allem: Was macht man, wenn man eines Morgens aufwacht und sich mitten in einem Kriegsgebiet befindet?

Als Putins Armee am 24. Februar die Ukraine überfällt, ist Lyakhova mit Teamkollegen in Sumy, 60 Kilometer südlich der russischen Grenze, im Trainingslager. «Als wir am Morgen erwachten, fielen überall Bomben», sagt sie. «Wir haben unsere Sachen gepackt. Es war extrem gefährlich, wir sind einfach los. Weg. Eine Stunde später haben wir die Nachrichten gelesen, da war der Ort schon von den Russen besetzt. Es war richtig knapp.»

Zweite Juliwoche. Lyakhova sitzt in Bern auf einer sonnigen Terrasse. Sie ist soeben aus dem Trainingslager in St. Moritz zurückgekehrt. Morgen wird sie ins Flugzeug nach Eugene, Oregon steigen, an den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in den USA wird die 800-m-Bronzemedaillengewinnerin der EM 2018 um Ruhm und Ehre laufen. Vorher aber will sie Blick ihre Geschichte erzählen. «Es ist wichtig, dass die Welt sieht, was mit uns passiert», sagt sie.

Seit ein paar Wochen in der Schweiz: Die Leichtathletin Olga Lyakhova mit Tochter Nicole.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Instagram verrät: Es gibt ein Leben vor und nach dem 24. Februar

Wer sehen will, wie sich Olga Lyakhovas Leben verändert hat, besucht am besten ihr Instagram-Profil. Ihre Timeline lässt sich in vorher und nachher unterteilen: vor dem 24. Februar und danach. Vorher: Fotos von Lyakhova im Training, mit Töchterchen Nicole, bei einem Modeshooting. Bilder, wie man sie auf dem Profil einer dreissigjährigen Spitzen-Leichtathletin erwartet. Nachher: Flucht, Angst, Wut, Kampf. Schon im März sammelt sie Hilfsgüter und Lebensmittel für die Ukraine. Und es gibt ein irres Bild: Es zeigt Lyakhova mit ihrer einjährigen Tochter in einer Badewanne, die mit einem Kissen und einer Decke gepolstert ist. «Das war eines Nachts in unserer Wohnung zu Hause in Krementschuck. Die Sirenen heulten, es kam wieder ein Angriff. Da haben wir uns in der Wanne versteckt, es war der sicherste Ort in der Wohnung.»

Die Ukrainer wissen jetzt Dinge, die sie nie wissen wollten. Absurdes Detailwissen, wie man in einem Kriegsgebiet überlebt. «Im Korridor der Wohnung ist man vor Bombenangriffen auch relativ gut geschützt», doziert sie. «Im Badezimmer ist es oft sicher. Aber nur, wenn es nicht gekachelt ist. Kacheln können bei einem Treffer zersplittern und selber zu einer Waffe werden.» Wo in anderen Ländern in den Nachrichten der Wetterbericht das heisse Thema ist, wurden die Ukrainer im TV darüber aufgeklärt, wie man sich am besten schützt. Man merkt ihr an, wie viel sie über den Krieg schon nachgedacht hat. Die Gedanken sind messerscharf, die Aussagen klar. Lyakhova muss nicht lange überlegen, bevor sie auf die Fragen antwortet. «Wir waren ein friedliches Land, wie die Schweiz. Jetzt könnten wir alle eine Doktorarbeit zum Thema Krieg schreiben. Ich will einfach nur eines wissen: Wie können Putin und die Politiker, die das zu verantworten haben, nachts schlafen?»

Am besten kämpft es sich als Sportlerin

Die ersten drei Wochen nach Kriegsausbruch blieb Lyakhova in Krementschuk. «Es war furchtbar, praktisch jeden Tag heulten die Sirenen. Wir haben uns im Keller versteckt, das war zwar kein richtiger Schutzkeller, aber besser als nichts.» Dann habe sie entschieden, zu gehen. «Ich kann am besten helfen, wenn ich als Sportlerin für die Ukraine kämpfe und aufmerksam mache auf das, was hier passiert.»

Mit ihrer Mutter Tetiana, ihrem Mann Yauheni, ihrem Bruder Nazar und ihrer Tochter geht es nach Polen, dann weiter nach Portugal in ein Trainingscamp von Sponsor Nike. Dann hört sie über einen Freund von der Möglichkeit, in der Schweiz unterzukommen. Der Schweizerische Leichtathletik-Verband nahm eine Reihe von ukrainischen Sportlern auf, versuchte ihnen eine Unterkunft zu besorgen und ein Trainingsumfeld. Lyakhova und ihre Familie kommen nach Bern. In einem grossen Haus im Stadtteil Spiegel können sie bleiben, neben den Lyakhovas lebt auch Sergii Smehlyk mit Frau und Tochter da.

Die Schweiz ist jetzt das zweitliebste Land

Die Aussicht von der Terrasse ist traumhaft, der Blick geht auf das Bundeshaus. Es liegt da und sieht aus wie im Swiss Miniatur. Für diese Lage würde manch einer viel Geld zahlen. Die Ukrainer können hier wohnen, weil das Haus bald abgerissen wird und einem Neubau weichen muss. Es gehört einer bekannten Schweizer Leichtathletik-Persönlichkeit, die lieber ungenannt bleiben will.

Die Ukrainer sind dankbar, hier zu sein. «Die Schweiz ist jetzt mein zweitliebstes Land auf der Welt», sagt Lyakhova. «Wir wurden von den Nachbarn unglaublich warm willkommen geheissen. Ihr Schweizer habt den Ruf, kalt und zurückhaltend zu sein. Das stimmt doch überhaupt nicht.»

Im Nachbarsgarten flattert eine ukrainische Flagge. Mama Tetiana, ebenfalls eine frühere Leichtathletin und vor ihrer Tochter nationale Rekordhalterin über 800 m, hat in einer Ecke des Gartens Tomaten angebaut. Neben der Eingangstür steht ein Ping-Pong-Tisch, an dem tagelang Duelle ausgetragen werden. Die Nachbarsmädchen schauen von ihren Trottinetts aus neugierig zu, als Blick die beiden Familien vor dem Haus zum Gruppenbild bittet.

«Ich will so schnell wie möglich wieder nach Hause»

Olgas Bruder Nazar (12) geht seit zwei Wochen in eine Schweizer Schule. «Wir sind gerne hier», sagt Lyakhova in die Idylle hinein. «Es ist das Paradies. Es ist perfekt hier. Das Beste neben den Menschen? Das Essen. Es ist so gut. Der Käse, das Brot, die Qualität des Essens ist super. Du musst dir nicht so viele Gedanken machen, was du isst. Es ist ein Traum.»

Und trotzdem denkt sie keine Sekunde nach, als sie gefragt wird, was ihr grösster Wunsch sei. «Ich will wieder nach Hause. So schnell wie möglich. Sobald der Krieg vorbei ist, wollen wir wieder in die Ukraine.»

Nur wer wird dann noch da sein? Wie wird es dort dann aussehen? Nachdem die Lyakhovas Krementschuk verlassen hatten, war die Stadt halbwegs intakt. Mittlerweile sind gute Teile zerstört. Eine Ölraffinerie wurde beschossen und vernichtet, später fielen Raketen auf das grösste Einkaufszentrum der Stadt. «Mitten am Tag, das war eine gezielte Attacke», sagt sie. «Ich habe da immer eingekauft. Und jetzt ist das Gebäude dem Erdboden gleich.» Wer geblieben ist, hat sich an den Krieg gewöhnt. «Die Haltung der Menschen in Krementschuk ist: Es kann ein Unfall passieren, du kannst Glück haben oder eben nicht. Du kannst aufwachen oder eben nicht.»

Die Grossmutter starb im März

Nicht mehr aufgewacht ist Lyakhovas Grossmutter. Bei einem Raketenangriff wurden die Scheiben ihres Wohnblocks zerstört. Es war Winter, es war kalt. «Wir hatten irgendwann nichts mehr gehört. Die Nachbarin, die für sie sorgte, meldete sich nach Tagen wieder. Sie konnte nur kurz reden, aber sie hat uns gesagt, dass meine Oma tot ist.» Wie die Grossmutter gestorben ist, weiss die Enkelin nicht. «Wir wissen eigentlich nichts. Wir konnten bei ihrem Begräbnis nicht dabei sein. Die Leute aus dem Haus haben sie in der Nähe begraben.»

Immer noch in der Ukraine ist Vater Alexander (56), ein früherer Boxer, heute eigentlich Boxtrainer. Der wird derzeit an der Waffe ausgebildet, denn mit den Fäusten allein lässt sich die Ukraine nicht verteidigen. Gut möglich, dass er demnächst eingezogen wird.

Whatsapp-Kontakt mit Papa und Oma

«Ich vermisse ihn», sagt Lyakhova. «Ihn und meine andere Oma, die auch noch dort ist.» Per Whatsapp-Videoanruf hält die Familie den Kontakt. «Meinen Sportler-Freunden geht es gleich. Sie haben alle eine ähnliche Geschichte oder eine noch schlimmere.» Im Moment sei die Lage bei ihren Liebsten okay. Auch Lyakhova hat längst mit dem Krieg zu leben begonnen und damit, dass aus der Heimat immer neue Schreckensmeldungen kommen. «Ich habe keine Ahnung, wie es weitergeht. Wenn die WM vorbei ist, gehe ich nach Hause, wenn es geht. Wenn nicht, weiss ich nicht. Vielleicht können wir nach Bern zurück, das hoffe ich.»

Eigentlich wäre alles ganz anders geplant gewesen. Die Lyakhovas hatten in Krementschuk eine Wohnung gekauft, Familienpläne geschmiedet, sich ein Leben aufgebaut. «Nun werden wir wieder bei null anfangen. Irgendwann.»

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