«Habe das Gefühl, wenn ich einen Seich mache, ist finito»
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Nina Christen geht in die Luft:«Habe das Gefühl, wenn ich einen Seich mache, ist finito»

Handy-Trick und Ernährungsplan
Olympia-Heldin Christen plant den nächsten Höhenflug

Nina Christen hebt wieder ab. Die Olympiasiegerin hat ihr Tief überwunden und nimmt Anlauf zu einem neuerlichen Höhenflug. Blick hat die Profi-Schützin bei einer ihrer ersten Flugstunden begleitet.
Publiziert: 01.08.2022 um 16:34 Uhr
An den Olympischen Spielen 2021 ist Nina Christen durchgestartet. Jetzt hebt sie als Pilotin ab – in ganz neue Sphären.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Nicola Abt (Text) und Benjamin Soland (Fotos)

Sanftes Vogelgezwitscher erfüllt den Flugplatz Belp am frühen Donnerstagmorgen mit Leben. Kaum eine Menschenseele lässt sich an diesem prächtigen Juli-Tag blicken. Kurz vor acht Uhr scheucht das Motorengeräusch des heranfahrenden Autos von Nina Christen (28) die Singvögel in den Baumkronen auf. «Was für ein Kontrast im Vergleich zum Empfang vor knapp einem Jahr in Zürich», sagt die angehende Privatpilotin mit einem Augenzwinkern.

Rückblick: 2. August 2021. Die Profi-Schützin landet nach ihrem Olympia-Coup – Gold im Dreistellungsmatch und Bronze im 10-m-Luftgewehr-Wettbewerb – in Zürich. Ein Tsunami der Begeisterung schlägt der Nidwaldnerin entgegen. Christen wird vom Trubel rund um ihre Person regelrecht erstickt. Eine «post-olympische Depression» setzt ein. Wochenlang kommt sie am Morgen kaum aus dem Bett.

«Ich brauche meine tägliche Dosis Koffein»

Mittlerweile ist vieles anders, einiges besser, aber gewisses immer noch gleich: Christen ist und bleibt kein Morgenmensch. Schnurstracks bewegt sich die Formel-1-Anhängerin in Richtung Kaffeemaschine. «Ich brauche meine tägliche Dosis Koffein, sonst bin ich nicht zu ertragen.» Mit jedem Schluck wird ihr Blick klarer, die Stimmung besser und das Mundwerk lauffreudiger.

«Bei meiner ersten Flugstunde mit dem Helikopter hatte ich einen heftigen Schreckmoment», sprudelt es aus ihr heraus. Was war vorgefallen? «Auf einmal überliess mir der Fluglehrer die komplette Steuerung. Damit war ich natürlich völlig überfordert.» Ein Kaltstart in ihr neues Abenteuer. Vergleichbar mit dem Auszug von zu Hause Anfang Januar – nach 27 Jahren. Zurzeit lebt sie gemeinsam mit ihrem Freund in einer Wohnung, die sich in der Nähe des Elternhauses befindet. «Meinen eigenen Haushalt zu haben, macht sehr viel Spass.» Eine Befreiung.

Ein teures «Spielzeug»

Noch bevor der Koffein-Booster seine komplette Wirkung entfalten hat, wird es ernst. Christen sitzt mit ihrem Fluglehrer Jonas Tschirren zusammen. Wie ist die Sicht? Woher kommt der Wind? Werden Wolken aufziehen? Die wichtigsten Fragen kommen auf den Tisch. Danach gehts ans Eingemachte.

Mit einem Schlauch – wie man ihn an jeder Auto-Tankstelle sieht – wird das 180 PS starke und rund 500'000 Schweizer Franken teure Fluggerät mit Treibstoff befüllt. Christen studiert die Checkliste mit Argusaugen. «Wenn du fliegen willst, musst du einfach nur lesen können. Jeder Schritt ist irgendwo niedergeschrieben», sagt Tschirren spasseshalber, während er neben der Olympiasiegerin, die ihre dritte Flugstunde absolviert, im Zweisitzer Platz nimmt.

Neue Angewohnheit im Schlafzimmer

Kurz darauf ertönt das Knattern des Motors, die Rotorblätter beginnen zu zirkulieren, und ein immer stärker werdender Luftstrom bläst uns entgegen. Einige Minuten später erhebt sich das Flugobjekt wie von Geisterhand, gewinnt schnell an Höhe und schwebt davon.

«Hoch über dem Boden, da eröffnen sich mir ganz neue Blickwinkel auf die Welt und das Leben.» Christen musste einsehen, dass sie sich im Vergleich zum vergangenen Jahr verändert hatte, gewisse Bedürfnisse stärker geworden sind und andere abgenommen haben. Ein langwieriger Prozess.

Neuerdings verzichtet sie auf Kohlenhydrate. Nur ab und zu weicht sie von ihrem Menüplan ab. «Ich fühle mich viel besser und bin nach den Mahlzeiten nicht mehr derart müde.» Auch im Schlafzimmer etablierte die ehemalige Gymnasiastin neue Gewohnheiten. Das Handy legt sie eine Stunde vor dem Einschlafen zur Seite. «So kann ich richtig runterfahren.»

Unzufrieden und ungeduldig

Energiegeladen hüpft sie nach ihrem 45-minütigen Flug aus dem Gimbal Capri G2. «Wie lief es?», frage ich die beiden. Während ihr Fluglehrer zufrieden lächelt, winkt Christen ab. «Die Fortschritte dürften gerne schneller kommen.»

Der Ehrgeiz einer Spitzensportlerin. Christen bringt Charakterzüge mit, die Tschirren geschickt zu nutzen weiss. «Ich gebe ihr während dem Flug deutlich mehr Informationen als anderen Lernenden, weil ich weiss, dass sie diese trotz der permanenten Drucksituation verarbeiten kann.»

Ausbildung kostet rund 35'000 Franken

Bis zur Privatpiloten-Lizenz ist es noch ein weiter Weg. Gesetzlich müssen vor der Prüfung 45 Flugstunden absolviert werden. Kostenpunkt? Rund 35'000 Schweizer Franken. Ein teures und zeitintensives Hobby, das nach der Karriere im Schiesssport zum Broterwerb von Christen werden könnte, wie sie gedankenversunken erklärt.

Vorerst gilt ihr Fokus aber der Weltmeisterschaft Mitte Oktober in Kairo. Dort will sie mit einem neuen Trainer erneut nach den Sternen greifen. «Ein Medaillengewinn ist sicher im Hinterkopf.» Sollte das Vorhaben gelingen und kehrt sie geschmückt mit einer weiteren Auszeichnung um den Hals zurück, dürften am Flughafen nicht nur eine Handvoll Singvögel auf sie warten.

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