Bruder Clint (†25) und Vater Jerry (†79) starben nach Velo-Unfällen
Die traurige Geschichte von SRF-Experte Montgomery

Sven Montgomery (47) wird zum zwölften Mal die Tour de Suisse analysieren. Es ist sein Lieblingsrennen. Was kaum einer weiss: Der Ex-Radprofi hat in der Familie schwere Schicksalsschläge erlebt, Vater und Bruder kehrten von Rad-Touren nie mehr zurück.
Publiziert: 03.06.2024 um 00:20 Uhr
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Aktualisiert: 03.06.2024 um 08:54 Uhr

Friedhof Köniz BE, ein regnerischer Montagmorgen im Mai. Von den riesigen Tannen tropft es ohne Unterbruch. Sven Montgomery (47) stört das nicht. Er blickt auf das Familiengrab. Zwei Namen sind dort in den Stein gemeisselt: Clint und Jerry.

Clint, das ist der jüngere Bruder des ehemaligen Rad-Profis. Er starb mit nur 25 Jahren. «Es passierte 2003. Clint war mit dem Velo unterwegs. Ein Autofahrer wollte einen Lastwagen überholen. Dabei übersah er meinen Bruder.»

Jerry ist der Kosename von Montgomerys Vater Charles Jerrod (1944–2023). Vor einem Jahr setzte auch er sich aufs Velo, ein E-Bike, und fuhr los. Auch er kehrte, so wie Clint, nicht mehr von seiner Tour zurück. «Seit seiner Beerdigung war ich nie mehr auf dem Friedhof. Es ist ein seltsames Gefühl. Ich denke gerne an beide zurück, aber dieser Ort gibt mir nichts.»

SRF-Experte Sven Montgomery verlor Bruder und Vater nach Velo-Unfällen. Er spricht offen darüber. Und blickt auf seine Karriere zurück.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Er sei ein pragmatischer Mensch, so Montgomery. Immer schon gewesen. «Das bedeutet nicht, dass mich die Todesfälle meines Bruders und meines Vaters nicht durchgeschüttelt hätten. Ich habe mich aber nie abgeschottet. Im Gegenteil. Ich ging sogar ganz bewusst unter die Leute.»

«Ich war zu wenig gut»

Der Alltag Montgomerys ist vollgepackt. Der ehemalige Top-Kletterer hat eine 17-jährige Tochter aus einer früheren Beziehung, dazu eine 27-jährige Stieftochter und einen Sohn (7 Jahre) mit seiner aktuellen Partnerin, die auch seine Ehefrau ist. Er leitet im 90-Prozent-Pensum das Polizei-Inspektorat in Köniz und analysiert fürs Schweizer Fernsehen SRF Velorennen. «Wegen Olympia und der WM komme ich in diesem Jahr auf über 40 TV-Einsätze, so viele wie noch nie.» Fürs Velofahren bleibt da kaum Zeit, oder? «Meine 7000 Kilometer schaffe ich schon», sagt er schmunzelnd.

Montgomery wirkt voller Energie, als er uns in seinem Daheim in Köniz zum Espresso («so stark wie möglich») empfängt. Fast so wie damals, Anfang der Nullerjahre, als er sich mit Kraft und Willen aufmachte, die Schweizer Rad-Tristesse bei Rundfahrten zu beenden. Geschafft hat er das nicht. «Ich träumte davon, die Tour de France zu gewinnen. Aber ich war einfach zu wenig gut», sagt er. Punkt. So einfach kann das sein.

Er hätte sich mehr Wahnsinn gewünscht

Tatsächlich fuhr Montgomery, dessen Vater Amerikaner war, nur einen Profi-Sieg ein. 2001, beim GP du Midi-Libre, 5. Etappe. Diese Bilanz ist angesichts seines grossen Motors nur etwas: ein Hohn. «Zu Beginn war ich eifersüchtig auf andere, die mehr Erfolg hatten. Aber eigentlich waren mir die Siege nicht so wichtig, der Spass stand im Vordergrund. Es hätte mir allerdings Freude bereitet, in einigen Bergetappen die Konkurrenz noch etwas häufiger in den Wahnsinn zu treiben.»

Das Problem: Verletzungen warfen Montgomery immer wieder zurück. Einmal brach er sich den Schädel, einmal erlitt er eine Blutvergiftung, viel zu oft zersplitterte das Schlüsselbein. «Leider war ich technisch nicht sehr gut. Als Kind und Jugendlicher hiess es bei mir einfach: Ab aufs Velo und fahren! Das war früher einfach so. Eine fahrerische Ausbildung, wie sie fast alle heute geniessen, hatte ich nicht. Entsprechend unsicher war ich auf dem Rad.»

Nach der Beerdigung fuhr er ein Rennen

Als sein jüngerer Bruder starb, war Montgomery 27 Jahre alt und stand an einer Schwelle – würde er doch noch Weltklasse werden oder einfach ein solider Bergfahrer und Rundfahrer bleiben? «Ich hatte ein gutes Verhältnis zu Clint, wir wohnten sogar gemeinsam in einer WG. Als ich von seinem Tod erfuhr, war dies ein Schock. Trotzdem habe ich weiter funktioniert. Nach seiner Beerdigung fuhr ich am selben Nachmittag noch ein Rennen. Für Clint. Das war wohl meine Art, mich von ihm zu verabschieden.»

2004 sollte Montgomerys grosses Jahr werden, er wollte mit dem Team Gerolsteiner beim Giro in die Top 10. Die Form stimmte. Doch dann wurde er dreimal unverschuldet zu Boden gerissen. «Überall am Körper war Tapete weg, ich fand im Bett keine geeignete Position, um zu schlafen.»

Nur Antidepressiva nützten noch

Dennoch blieb Montgomery auf Kurs, ehe am Ende der zweiten Giro-Woche bei einem Sturz das Schlüsselbein brach. «Das gab mir den Rest. Ich bin in eine heftige Depression gerutscht.» Montgomery ging zum Psychiater, Osteopathen und Kinesiologen. Sogar mit einem Geistheiler («Er wollte meine Energieflüsse korrigieren») versuchte er es. «Letztlich schluckte ich Antidepressiva. Es war das Einzige, das funktioniert hat.»

Irgendwann erholte sich Montgomery – physisch und psychisch. «Aber ich war nicht mehr der gleiche Rennfahrer. Ich unterschrieb für zwei weitere Jahre bei Gerolsteiner, wusste aber, dass der Ofen aus war.» 2006 trat er zurück.

SRF-Job erfüllt ihn

Danach arbeitete Montgomery bei einem Frauen-Rad-Team, bei der Polizei («Ich verteilte Bussen für falsch geparkte Autos») und auch bei Swiss Cycling. Heute, als Leiter des Polizei-Inspektorats, schuftet er meistens im Büro. Dabei liegt es auch an ihm, Kontrollen zu organisieren und Bewilligungen einzuleiten – zum Beispiel für das berühmte Gurten-Festival.

Und eben, seit 2011 ist er mit Leib und Seele Rad-Experte beim SRF. «Ich habe als Fahrer nicht das erreicht, was ich wollte. Dank meiner Arbeit beim TV habe ich aber letztlich doch noch Frieden mit meiner Karriere geschlossen», sagt er.

Die Polizei suchte seinen Vater lange vergebens

Unzählige Rennen hat Montgomery fürs SRF analysiert – darunter elf Mal die Tour de Suisse. Im letzten Jahr musste sich der Fantasy-Filmfan allerdings überlegen, ob er vor seiner Lieblingsrundfahrt überhaupt das Mikrofon in die Hand nehmen wollte.

Fünf Tage vor dem Start der Tour starb sein Vater. «Sechs, um genau zu sein», korrigiert er, «denn die Kapo hat seinen Körper lange nicht gefunden.» Weshalb? Montgomery erklärt: «Jerry wollte ein Velotürchen nach Gsteig machen. Ganz in der Nähe also. Aber dort kam er nie an. Die Stunden vergingen, es gab keine Spur. Irgendwann wurde es dunkel, meine Mutter alarmierte die Polizei.»

Tags darauf entdeckte man Jerry Montgomery ertrunken in der Saane – gleich auf der Höhe des Elternhauses. Die Strömung hatte den Körper dorthin getrieben. An Selbstmord glaubt Montgomery nicht, auch wenn sein Vater gesundheitlich angeschlagen war und einmal gemeint hatte, dass er gerne auf dem Velo sterben wollte. Vielmehr habe er wohl auf dem E-Bike einen Aussetzer gehabt, der zum Unfall führte, so Montgomery. «Jerry wollte im Jahr darauf noch ein letztes Mal in die USA reisen. Leider ist es nicht dazu gekommen.»

«Geschafft, diese Kapitel zu verarbeiten»

Wie schon beim Tod seines Bruders, funktionierte Montgomery auch nach dieser Tragödie – trotz seiner grossen Trauer. Noch am selben Abend nahm er an einer Podiumsdiskussion im Swiss Bike Park in Oberried BE zum Thema «Schwierige Situationen im Leben überwinden» teil.

«Was für eine Ironie des Schicksals. Die Frage war für mich letztlich, ob ich bei der Tour de Suisse würde kommentieren können oder nicht. Die Veranstaltung in Oberried war die Hauptprobe dafür.» Beim SRF seien alle informiert gewesen, öffentlich machte Montgomery die Sache aber nicht. «Ich habe die Rennen analysiert, als wäre nichts gewesen.»

Und heute? Da freut sich Montgomery wie ein kleines Kind auf die nächste Tour de Suisse. Auf die Tragödien in seiner Familie angesprochen, meint er: «Ich vergesse nicht, was war. Aber ich habe es geschafft, diese Kapitel zu verarbeiten. Ich lebe im Hier und Jetzt und ich bin überzeugt, dass sich Clint und Jerry dies genau so gewünscht hätten.»

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