Cancellara kann Nina Christen nachfühlen
«Auf einmal ist das schwarze Loch da»

Nina Christen ist nicht alleine. Auch Fabian Cancellara (40) hatte nach seinen grössten Erfolgen psychische Probleme. Hier erzählt er, wie schlimm das war, warum er öffentlich darüber redet und was er Christen jetzt rät.
Publiziert: 09.09.2021 um 16:53 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2021 um 13:10 Uhr
Daniel Leu

Herr Cancellara, diese Woche machte Olympiasiegerin Nina Christen ihre post-olympische Depression öffentlich. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie davon gehört haben?
Fabian Cancellara: Mich hat das nicht überrascht. Ich habe während meiner Karriere selber sehr viele Hochs und Tiefs gehabt. Und beides kann danach negative Gedanken auslösen.

Sie haben nach Ihrem ersten Olympiasieg 2008 gesagt: «Ich fiel in ein Loch. Es ging mir gar nicht gut.» Hatten Sie damals eine Depression?
Eine Depression ist eine schwerwiegende Krankheit, und ich war in der Zeit nicht krank. Mir ging es einfach nicht gut. Ich vergleiche es gerne mit dem Baby-Blues. Viele Mütter leiden nach der Geburt ihrer Kinder darunter.

Der Fall Christen

An den Olympischen Spiele von Tokio gewann Sportschützin Nina Christen (27) Gold und Bronze. Diese Woche machte sie öffentlich, dass sie danach in ein tiefes Loch fiel. In einem emotionalen Post auf Instagram erklärte sie, warum sie eine Pause eingelegt hat: «Die ‹post-olympische Depression› hat mich hart erwischt. Viele Olympia-Teilnehmer erleben das irgendwann in ihrer Karriere.»

Die Auswirkungen sind vielfältig. Sie leide an Schlaflosigkeit, massiver Erschöpfung, Konzentrations- und Motivationsproblemen, Stimmungsschwankungen, schlimmer Migräne und Nackenschmerzen. «Ganz zu schweigen von all den Gedanken, die dafür sorgen, dass mir ständig der Kopf dreht», so Christen weiter.

An den Olympischen Spiele von Tokio gewann Sportschützin Nina Christen (27) Gold und Bronze. Diese Woche machte sie öffentlich, dass sie danach in ein tiefes Loch fiel. In einem emotionalen Post auf Instagram erklärte sie, warum sie eine Pause eingelegt hat: «Die ‹post-olympische Depression› hat mich hart erwischt. Viele Olympia-Teilnehmer erleben das irgendwann in ihrer Karriere.»

Die Auswirkungen sind vielfältig. Sie leide an Schlaflosigkeit, massiver Erschöpfung, Konzentrations- und Motivationsproblemen, Stimmungsschwankungen, schlimmer Migräne und Nackenschmerzen. «Ganz zu schweigen von all den Gedanken, die dafür sorgen, dass mir ständig der Kopf dreht», so Christen weiter.

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Wie ging es Ihnen konkret 2008?
Damit du Olympiasieger werden kannst, laugst du deinen Körper und deinen Geist komplett aus. Du gehst sogar über deine eigenen Grenzen hinaus. Dann sitzt du irgendwann alleine im Flieger, kommst zu Hause an und stehst komplett neben deinen Schuhen. Auf einmal ist sie da, diese Leere, dieses schwarze Loch. Du hast keine Ziele mehr, findest keinen Halt. Das Spezielle daran: Körperlich bist du in diesem Moment ja eigentlich noch in Topform, trotzdem geht es dir schlecht. Aussenstehende können das daher kaum nachvollziehen. Sie sagen dann: «Hey, du bist Olympiasieger geworden. Warum weinst du jetzt?»

Diese Woche machte Nina Christen öffentlich, dass sie unter einer post-olympischen Depression leidet.
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Hatten Sie solche Gefühle öfters?
Ja, zum Beispiel 2016. Da kam ich von der Tour de France nach Hause. Ich habe zwei Tage nur geschlafen oder aus dem Fenster geschaut. Dabei habe ich mich ständig gefragt: Ist es draussen schön oder regnet es? In solchen Phasen konnte ich der Familie keine Gefühle geben. Ein anderes Mal wollte ich eigentlich mit den Kindern planschen und für sie der lustige Papa sein. Aber es ging einfach nicht. Du siehst die Kinder spielen und lachen, trotzdem realisierst du es nicht richtig und kannst nicht darauf eingehen. Wieder ein anderes Mal konnte ich zwei Tage lang nicht die Storen hochziehen, weil ich das Licht einfach nicht aushielt.

Wissen Sie rückblickend, in welchen Momenten es Sie besonders heftig traf?
Bei mir war es immer ähnlich: Je mehr Energie du aus deinem Körper gezogen hast, desto grösser war nach einem Triumph oder einer grossen Niederlage diese Leere.

Fabian Cancellara

Zweifacher Olympiasieger, vierfacher Weltmeister, dreifacher Sieger Paris–Roubaix und Flandern-Rundfahrt, zweifacher Schweizer Sportler des Jahres ... Die Siegesliste von Fabian Cancellara liesse sich beliebig verlängern. 2016 trat der heute 40-jährige Berner zurück. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Zweifacher Olympiasieger, vierfacher Weltmeister, dreifacher Sieger Paris–Roubaix und Flandern-Rundfahrt, zweifacher Schweizer Sportler des Jahres ... Die Siegesliste von Fabian Cancellara liesse sich beliebig verlängern. 2016 trat der heute 40-jährige Berner zurück. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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Wie viel Mut braucht es, so offen darüber zu reden?
Wir alle sind Menschen, keine Roboter. Ich bin einer, der sehr offen über solche Themen reden kann und will. Ich wollte mit meiner Geschichte immer anderen Athleten Mut machen. Doch leider ist es immer noch schwierig, über solche Themen offen zu reden.

Wie meinen Sie das?
Die Leute sollen dazu stehen, wie es ihnen geht. Es soll Platz für Gefühle haben. Die Realität ist leider oft noch eine andere. Ein Beispiel: Wenn einer eine andere Person fragt, wie es ihr geht und diese sagt «nicht gut», dann freut sich der andere insgeheim, weil es ihm ja besser geht. Deshalb ist das für viele immer noch ein Tabu-Thema.

Was würden Sie Nina Christen raten?
Ich kenne sie nicht persönlich und kann deshalb nur von meinen Erfahrungen berichten. Wichtig ist: Sie ist nicht alleine mit diesen Problemen und muss sich dafür nicht schämen. Mir half immer meine Familie, und ich nahm auch professionelle Hilfe in Anspruch. In solchen Momenten hilft keine Flucht, du musst dich mit dir selber auseinandersetzen und dir die Zeit geben, die es braucht. Gelingt dir das, kannst du neue Kräfte entwickeln, daran wachsen und weitere sportliche Erfolge feiern.

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