Foto: Benjamin Soland

Heute ist er glücklicher Pöstler
Ex-Rad-Weltmeister Oscar Camenzind über seinen Doping-Missbrauch

Er ist der letzte Schweizer Strassen-Weltmeister, 53 Jahre alt, und er liebt sein Leben als Pöstler: Oscar Camenzind. In seiner Heimat Gersau SZ spricht er über seinen Erfolg sowie seinen Doping-Missbrauch, und er sagt, warum er nach der Velo-Karriere Bergsteiger wurde.
Publiziert: 18.09.2024 um 14:53 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2024 um 16:53 Uhr

Auf einen Blick

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Wie lange geht das Warten noch weiter? Seit 26 Jahren hofft die Schweiz auf einen Rad-Weltmeister auf der Strasse. «Ich hätte nie gedacht, dass es so lange dauern würde», sagt Oscar Camenzind (53). Er ist der letzte Radgenosse, dem das Kunststück gelang – 1998 in Valkenburg (Ho). «Ich wünsche mir, dass es in Zürich klappt. Es wäre wunderbar, endlich einen Nachfolger zu haben.»

Wir treffen Camenzind an einem lauen Spätsommernachmittag im Restaurant Seegarten in seiner Heimat Gersau SZ. «Ösi», wie ihn alle nennen, hat seine Frühschicht beendet und geniesst die wärmende Sonne – seit seinem Rücktritt 2004 arbeitet er als Pöstler. «Ich kenne jeden Einzelnen hier. Oder zumindest jeden Namen», sagt er schmunzelnd.

Camenzind ist gut gelaunt, redselig und zuvorkommend. Und so sagt er klipp und klar: «Das Leben, das ich jetzt führe, gefällt mir besser als jenes, das ich als Velo-Profi hatte. Ich verdiene zwar viel weniger, habe aber auch weniger Stress und kann in der Freizeit tun und lassen, was ich will.»

Am 11. Oktober 1998 krönte sich Oscar Camenzind zum Weltmeister im Strassenrennen. Seither hat dies kein Schweizer mehr geschafft.
Foto: Keystone
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Er sei in seinem Beruf täglich draussen, bei Sonne, Regen und Schnee – entweder im Auto oder auf dem Elektro-Moped, so Camenzind. «Ich könnte nie den ganzen Tag in einem Büro sitzen, sondern brauche frische Luft», sagt er. Und ergänzt mit dem Cappuccino in der Hand: «Ich konnte schon immer mit Kälte und Nässe umgehen. Es machte mir weniger aus als anderen.»

Er schenkte seinen Teamkollegen 110'000 Franken

Auch darum wurde der 11. Oktober 1998 in Valkenburg der grösste Tag in Camenzinds Karriere. Damals schüttete es wie aus Kübeln. Die Temperatur: 5 Grad. «Die Hälfte aller Fahrer war schon am Start psychisch kaputt», erzählt Camenzind. Er selbst witterte zwar seine Chance, dachte aber nie ernsthaft daran, dass er nach sechs Rennstunden ins Regebogentrikot schlüpfen würde. Oder doch?

«Ich hatte jedem Teamkollegen gesagt, dass ich ihm im Fall der Fälle 10’000 Franken schenken würde.» Solche Ansprachen seien damals allerdings üblich gewesen und hätten nicht viel bedeutet. «Am Ende war ich um 110’000 Franken leichter, aber weil ich in meinem Vertrag mit Mapei, meiner damaligen Mannschaft, eine Prämie ausgehandelt hatte, blieb mir doch etwas übrig», sagt er.

Wichtiger sei sowieso gewesen, dass er mit seinen Kameraden etwas Grosses habe feiern dürfen. «Um sechs Uhr morgens mussten wir nach Brüssel. Ich glaube nicht, dass jemand mit 0,0 Promille ins Flugzeug stieg.»

Der Vater schloss sich im WC ein

Camenzind hatte es geschafft. Der Bauernsohn aus Gersau, der oft im Schatten von anderen stand. «Ich war kein Supertalent, sondern habe mir alles hart erarbeitet. Schon als Kind war ich stets bei Wind und Wetter draussen. Im Sommer habe ich geheut und im Winter Holz gehackt.» Camenzind geht davon aus, dass er sich damals jene Härte holte, die ihm später zugutekam – auch in Valkenburg.

«In den Wochen vor der WM habe ich zudem immer bei Sauwetter trainiert. Dass es danach geklappt hat, ist wunderbar.» Camenzind besiegte in Holland unter anderem Lance Armstrong (52). Vater Adalbert war dabei so nervös, dass er die Solofahrt seines Sohnemanns nicht im TV anschauen konnte – er schloss sich im Badezimmer ein und kam erst heraus, als Camenzind Weltmeister war.

EPO? «Das war russisches Roulette»

Eine Eintagesfliege war Camenzind übrigens nicht. Vor dem WM-Titel war er beim Giro Vierter geworden, kurz danach triumphierte er bei der Lombardei-Rundfahrt, 2000 gewann er die Gesamtwertung der Tour de Suisse und 2001 Lüttich–Bastogne–Lüttich.

Danach gab es kaum noch Höhepunkte – auch, weil sein Körper rebellierte. Camenzind litt am Pfeifferschen Drüsenfieber, kam nicht mehr auf Touren und nahm das Dopingmittel EPO. «Ich habe russisches Roulette gespielt und alles verloren», sagt er heute.

Tatsächlich verzichtete er damals, im Jahr 2004, sogar auf eine B-Probe. Camenzind trat einen Tag vor der Doping-Nachricht vor die Medien, gab den Missbrauch zu und beendete seine Karriere. «Ich hätte maximal noch ein Jahr angehängt. So aber war klar, dass es vorbei ist.»

Es drohte ein tiefer Fall. Camenzind fand aber Ersatz für das Adrenalin von früher. Er unternahm Skitouren und waghalsige Bergbesteigungen. 30 der 48 Schweizer 4000er hat er bis heute bezwungen. In Argentinien kletterte er sogar auf den Aconcagua (6961 Meter über Meer), den höchsten Berg Südamerikas. «Das war meine Therapie», sagt er.

Und heute? Da geniesst Camenzind sein Leben in Gersau. Dennoch stellt sich die Frage: Sehen die Menschen heute in ihm einen Ex-Weltmeister oder einen Ex-Doper? «Das musst du sie fragen», sagt er. Blöde Sprüche oder gar Beleidigungen habe er, nachdem er erwischt wurde, nur ganz wenige erlebt. «Und wenn einer fand, dass ich ein Arschloch sei, dann hat er es mir wenigstens ins Gesicht gesagt und nicht hinten rum. Das ist mir immer noch lieber.»

Er hat kaum noch Medaillen und Pokale

Pokale, Medaillen und Trikots aus früheren Zeiten hat Camenzind kaum noch. Die meisten, mit ganz wenigen Ausnahmen, hat er verschenkt. Mit dem Rennvelo fährt er noch 4000 Kilometer pro Jahr, im Frühling ist er gerne mit Kollegen im Südtirol unterwegs.

«Das reicht mir locker», meint er. Und ergänzt: «Im Gegensatz zu früher fahre ich sicher nicht mehr bei Regen und Kälte raus. Jetzt geht es nur noch ums Geniessen», sagt er und blickt auf den glitzernden Vierwaldstättersee.

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