Reit-Legende Christine Stückelberger
Das verrückte Leben der Olympiasiegerin

Keine Schweizerin nahm öfter an Olympischen Spielen teil als Christine Stückelberger. Mit uns blickt die 77-Jährige zurück auf eine Hochzeit ohne Bilder, Unfälle mit schwerwiegenden Folgen und ein Gold-Pferd, das auf einem Auge blind war.
Publiziert: 14.07.2024 um 10:14 Uhr
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Aktualisiert: 14.07.2024 um 13:22 Uhr
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Daniel LeuStv. Sportchef

Blick: Frau Stückelberger, Sie haben mal gesagt: «Ein Buch über mich würde eine Geschichte wie beim ‹Denver Clan› werden.» Ging es in Ihrem Leben bisher nur um Geld, Rache und Affären?
Christine Stückelberger: (Lacht.) Nein, so war das nicht gemeint. Ich habe einfach viel erlebt, Schönes und Trauriges, aber keine Affären.

Beginnen wir ganz von vorne: Wie wuchsen Sie auf?
Sehr bescheiden. Ich war fünf, als sich meine Eltern scheiden liessen und meine Mutter mit mir und meiner älteren Schwester von Wallisellen nach Bern zog. Wir hatten damals kaum Geld, im Gegensatz zu vielen meiner Schulkolleginnen. Ich war schon froh, wenn ich mal ein Fünf-Rappen-Stück hatte, um mir beim Bäcker eine Scheibe Schwarzbrot leisten zu können.

Ihr Grossvater Eduard von Steiger war zwischen 1940 und 1951 Bundesrat. Haben Sie ihn mal bei der Arbeit besucht?
Nur einmal. Ich kann mich noch daran erinnern, wie dort seine Sekretärin an der Schreibmaschine sass.

Die Grande Dame des Dressurreitens: Christine Stückelberger.
Foto: URS BUCHER
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Von Steiger wurde wegen seiner angeblich strikten Politik gegenüber Juden im Zweiten Weltkrieg harsch kritisiert. Zu Recht?
Nein! Mein Grossvater hat viele Juden aufgenommen und sie im Emmental auf die Höfe verteilt. Auch bei uns zu Hause gab es immer wieder Flüchtlingsfamilien. Das war aber alles geheim, und wir durften nichts sagen.

Was für ein Kind waren Sie?
Ein «Luusmeitli». In der Schule hatte ich nie aufgepasst und meist zum Fenster rausgeschaut. Und schon kam vom Lehrer das Lineal geflogen. Einmal hatte ich einen «Seich» gemacht. Als Strafe dafür musste ich am Mittwochnachmittag beim Lehrer im Garten jäten. Heute undenkbar.

Persönlich

Keine Schweizerin nahm öfter an Olympischen Spielen teil als die Dressurreiterin Christine Stückelberger: Insgesamt sechsmal (plus Ersatzreiterin in Mexiko 1968) vertrat sie unser Land. Ihre Ausbeute dabei: einmal Gold, dreimal Silber und einmal Bronze. 1976 wurde sie zur Schweizer Sportlerin des Jahres gewählt, und 1978 gewann sie den WM-Titel. Seit den 70er-Jahren lebt sie auf einem Gestüt in Kirchberg SG. Die 77-Jährige gibt noch heute regelmässig Reitstunden.

Keine Schweizerin nahm öfter an Olympischen Spielen teil als die Dressurreiterin Christine Stückelberger: Insgesamt sechsmal (plus Ersatzreiterin in Mexiko 1968) vertrat sie unser Land. Ihre Ausbeute dabei: einmal Gold, dreimal Silber und einmal Bronze. 1976 wurde sie zur Schweizer Sportlerin des Jahres gewählt, und 1978 gewann sie den WM-Titel. Seit den 70er-Jahren lebt sie auf einem Gestüt in Kirchberg SG. Die 77-Jährige gibt noch heute regelmässig Reitstunden.

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Wann traten Pferde in Ihr Leben?
Schon sehr früh. Als ich zwei war, gab es in Moosseedorf ein Hochzeitsfest. Plötzlich war ich verschwunden, und die Sorge war gross, dass mir etwas zugestossen sein könnte. Irgendwann kam jemand auf die Idee, im benachbarten Pferdestall nach mir zu suchen. Dort fand man mich dann auch. Ich stand zwischen den Hinterbeinen eines Pferds und wollte mich am Schweif hochziehen.

Von was träumte die kleine Christine als Kind?
Ich sah mich schon damals bildlich als Olympiasiegerin auf dem Podest stehend, aber im Eiskunstlauf.

Mit 18 zogen Sie nach Wien.
Es war ein sehr kalter Novembertag 1966. Zusammen mit meinen beiden Pferden ging es ab dem Berner Rangierbahnhof im Zug nach Wien. Im Viehwagen gab es keine Heizung und kein WC, das war schon ein richtiges Abenteuer.

In Wien arbeiteten Sie dann mit Georg Wahl zusammen.
Das war ein Glücksfall für mich, beruflich und in der Liebe. Vor Wien dachte ich nie ernsthaft an eine Karriere als Profisportlerin, obwohl ich schon Schweizer Meisterin war, doch dort schaffte ich den Sprung an die Weltspitze.

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«Erst nach dem Kauf kam raus, dass Granat auf einem Auge blind war»
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Bereits 1968 nahmen Sie als Ersatzreiterin erstmals an Olympischen Spielen teil.
Ich war damals erst 21 Jahre alt, und alles war neu für mich. Es war wie im Märchen, ich war Schneewittchen mit grossen Augen. Der Einmarsch bei der Eröffnungsfeier ins Stadion war für mich wie ein Weltwunder. Doch leider kam ich dann in Mexiko nicht zum Einsatz, weil der Equipenchef meinte, die Kleine müsse noch warten. Widerrede zwecklos.

1972 in München war es dann aber so weit. Doch die Spiele wurden von den Terroranschlägen überschattet. Was haben Sie davon mitbekommen?
Leider sehr vieles, von unserem Zimmer aus blickten wir auf den Balkon rüber, von dem geschossen wurde. Wir sahen Leute mit Masken. Das war schrecklich, da wir lange Zeit nicht wussten, was dort drüben genau passiert. Erst am Abend in der «Tagesschau» haben wir das ganze Ausmass erfahren. Dass junge Menschen an Olympischen Spielen sterben mussten, war schon sehr traurig.

Wiederum vier Jahre später krönten Sie sich in Montreal auf Granat zur Olympiasiegerin.
Als ich noch in Wien lebte und trainierte, konnten wir Granat günstig kaufen. Doch irgendwann wunderten wir uns, dass er nie richtig in den Stall reinkam und immer am Pfosten angeschlagen hat. Deshalb liessen wir ihn in einer Klinik in Wien untersuchen. Dort kam raus, dass er auf einem Auge total blind war. Trotzdem hielten wir an ihm fest, denn sonst hätte er wohl ein trauriges Ende genommen.

Stimmt die Legende, dass Granat zuerst einen anderen Namen hatte?
Ja, er hiess Cognac, doch ich mochte keinen Alkohol. An Weihnachten erhielt ich einmal von meiner Grossmutter als Geschenk einen Granatring. Sie sagte: «Das ist ein warmer Stein. Der begleitet dich und soll dir Glück bringen.» Deshalb taufte ich unser Pferd auf den Namen Granat um.

Sie haben mal gesagt, dass Sie schon vor Montreal wussten, dass Sie dort Olympiasiegerin werden würden. Warum?
Am Tag vor dem Abflug ging ich in Wallisellen mit den Hunden meines Vaters spazieren. Plötzlich sah ich ein vierblättriges Kleeblatt und dann noch eins und noch eins. Insgesamt waren es deren 16. Ich pflückte alle, presste sie, nahm sie mit nach Montreal und glaubte, dass ich gewinnen würde.

Für den Olympiasieg sollen Sie eine spezielle Belohnung erhalten haben.
Ich war schon immer Fan von amerikanischen Autos. Während den Spielen sagte ich dem Equipenchef, ich würde gerne mal so einen Riesenschlitten fahren. Doch er meinte nur: «Kleine, wenn du eine Medaille gewinnst, reden wir nochmals drüber.» Unmittelbar nach meinem Sieg besorgte ich mir einen rosaroten Chevi und fuhr einfach drauflos. Dabei hatte ich nicht berücksichtigt, dass dort alle Strassen gleich aussahen. Deshalb fand ich den Rückweg nicht mehr und hätte beinahe meine eigene Siegerehrung verpasst.

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«Im Dressurreiten gibt es Methoden, die nicht in Ordnung sind»
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Auch 1980 waren Sie die grosse Favoritin, doch dann boykottierte die Schweiz die Spiele in Moskau. Hat Sie das verärgert?
Nein, ich war eine der Ersten, die öffentlich einem Boykott beistimmte. Die Sowjetunion war damals in Afghanistan einmarschiert. Ich hätte deshalb in Moskau nicht mit einem guten Gewissen starten können. Stattdessen fanden in Goodwood im Reiten olympische Ersatzspiele statt. Dort gewann ich, offiziell ist das aber natürlich kein Olympia-Titel.

2000 endete in Sydney Ihre olympische Karriere. Mit einem enttäuschenden 13. Rang.
Da muss ich kurz ausholen. In Sydney entdeckte ich einen Reiter, der mit seinem Pferd auf der gesperrten Militarystrecke trainierte, das Pferd an den Beinen gefesselt. Da ich auch eine Tierschützerin bin, erstattete ich beim Weltverband FEI Anzeige. Das passte den Funktionären nicht. Danach war ich bei den Richtern ein rotes Tuch und wurde schlechter bewertet, als meine Leistung war, so auch in Sydney.

Ganz grundsätzlich – wie gesund ist Dressurreiten für die Pferde?
Wenn man es korrekt macht, ist das kein Problem. Leider gibt es bis heute Methoden, die nicht in Ordnung sind und die man öffentlich ansprechen muss. Wenn ich etwas sehe, das nicht geht, erstatte ich Anzeige. Leider haben viele nicht den Mut, Missstände aufzuzeigen. 

Doch auch Sie sorgten mal für einen Skandal: 1987 an der EM hiess es, Ihr Pferd sei gedopt gewesen.
Ich habe nie mich oder mein Pferd gedopt, es lag an verunreinigtem Futter, darin war eine winzige Menge von Theobromin enthalten. Man nahm mir dann die Medaille weg. Ich hätte sie mir danach auf juristischem Wege problemlos zurückholen können. Wir konnten beweisen, dass es kein Doping war, doch ich wollte Johann Hinnemann, der dank meiner Disqualifikation auf den Bronze-Platz rutschte, nicht die einzige Medaille seiner Karriere wieder wegnehmen. Deshalb verzichtete ich auf den Rechtsweg.

Sie haben vorher schon einmal Georg Wahl angesprochen. Was haben Sie ihm zu verdanken?
Alles, ich war elf, als ich ihn an der städtischen Reitschule in Bern das erste Mal sah. All meine Erfolge wären ohne ihn gar nie möglich gewesen.

Verheiratet waren Sie mit ihm aber nie. Warum nicht?
Er hatte aus seinen zwei Ehen schon Kinder, und wir hatten irgendwie gar nie Zeit für eine Hochzeit. So war es auch mit eigenem Nachwuchs. Plötzlich waren wir alt.

2013 starb Wahl im Alter von 93 Jahren.
Er hatte grosse gesundheitliche Probleme und musste seine letzten fünf Lebensjahre nach Operationen mehrheitlich im Spital verbringen. Irgendwann entschieden wir uns, dass wir ihn nach Hause nehmen, denn er wollte unbedingt in den eigenen vier Wänden sterben. Der Doktor fragte nur, ob ich mir sicher sei und ob ich mir das zutrauen würde. Ich sagte Ja und nahm ihn mit nach Hause.

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«Es ist ein Wunder, dass ich heute noch reiten kann»
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Wie schwierig war diese Zeit?
Sehr, denn ich musste mich ja auch noch um den Betrieb und die Pferde kümmern. Doch es war die richtige Entscheidung. Wir stellten das Krankenbett in die Stube, damit er rausschauen konnte zu den Pferden und den Blumen, die er sehr gerne mochte. Er ist dann noch einmal richtig aufgeblüht, konnte plötzlich wieder laufen, hat gekocht und Leute eingeladen. Er wollte das alles einfach noch einmal erleben. Das Beeindruckendste daran: Er hat nicht einmal mit seinem Schicksal gehadert.

2018 haben Sie doch noch zum ersten Mal geheiratet. Warum?
Ich kannte Hansruedi schon als Kind von der Berner Reitschule. Als wir 2018 in den USA waren, entschieden wir, spontan zu heiraten. Danach ass ich noch einen Teller Spaghetti im Hotel, und dann reisten wir gleich wieder in die Schweiz zurück. Alles ging so schnell, und es gibt kein einziges Foto davon.

Dass Sie heute noch am Leben sind, ist keine Selbstverständlichkeit. Sie hatten einige schwere Unfälle. Den schlimmsten wohl 1989.
Damals hat mich mein Pferd einfach «abglade». Dabei verschob sich ein Wirbel und durchstach das Rückenmark. Der Chirurg meinte damals, die Wahrscheinlichkeit, dass man bei so einem Unfall nicht im Rollstuhl lande, läge bei 1 Prozent. Daher ist es ein Wunder, dass ich heute noch immer reiten kann. Dafür bin ich dem Herrgott sehr dankbar.

2014 wurden Sie von einem Huf schwer am Körper getroffen.
Ich habe damals die «Bölle» zusammengenommen und dabei das Pferd nicht gesehen, das gespielt hat und an mir vorbeigaloppiert ist. Ich habe nicht mehr viele Knochen, die ich noch nie gebrochen habe.

Wie geht es Ihnen heute?
Naja, ich spüre das Alter schon. Ich habe eine Art Hautkrebs, dem ich aber keinen grossen Stellenwert einräumen möchte, und leider kann ich seit gut einem Jahr wegen meinen schlechten Augen nicht mehr Auto fahren. Das vermisse ich schon sehr. Ich kann nun nicht mehr einfach schnell mit dem Auto im Dorf ein Brot holen, zumal mein Mann gesundheitlich auch angeschlagen ist.

Haben Sie noch einen Traum, den Sie sich unbedingt noch erfüllen möchten?
Ich würde gerne noch einmal ans Meer reisen und dort im Meer schwimmen gehen.

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