Das ist die Schweizer Alternative zu Wimbledon
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Im alten Gurzelen-Stadion:Das ist die Schweizer Alternative zu Wimbledon

Rasentennis im «Terrain Gurzelen» – die Schweizer Alternative zu Wimbledon
«Auch Federer würden wir hier nicht rausschmeissen»

Noch nie Rasentennis gespielt? Auf dem heiligen Rasen im alten Gurzelen-Stadion ist jedermann willkommen. Auch Wimbledon-König Federer ...
Publiziert: 27.06.2021 um 14:09 Uhr
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Aktualisiert: 27.06.2021 um 20:58 Uhr
Cécile Klotzbach (Text) und Sven Thomann (Fotos)

Bis 2015 war das alte Stadion Gurzelen der Fussballtempel von Biel. Heute ist es ein Begegnungsort des Quartiers mitten in der Stadt. «Freiraum für Kreativität, Kultur und Sport – offen für alle», heisst es auf der Homepage. Und auch der im «Terrain Gurzelen» integrierte «Tennis Champagne» mit zwei Rasenplätzen im Eck des früheren Fussballfelds bietet genau das.

Wer an Rasen-Tennisplätze denkt, dem kommt unweigerlich Wimbledon in den Sinn. Und Schlagworte wie elitär, edel, Tradition, Etikette. Und Roger Federer. «Den würden wir hier auch nicht rausschmeissen», sagt Rémy Studer, einer der Gründerväter des alternativen Rasenmekkas in Biel schmunzelnd. Aber Federer war noch nie da. «Das ist wohl nicht so seine Umgebung. Hier ist es egal, wer man ist oder in welcher Sportmarke gespielt wird. Jeder wird gleich behandelt.»

Vielleicht unterschätzt er ja die Offenheit und Bodenständigkeit des Schweizer Superstars ein wenig. Aber auf den ersten Blick wirkt das Drumherum des 2017 gestarteten Tennisprojekts, wo Studer und seine Mitinitianten Matthias Rutishauser, Hari Strub, Manuel Engel und Steven Grütter ehrenamtlich ihre meiste Freizeit hineinstecken, tatsächlich etwas «abezupft».

Der «Greenkeeper»: Hari Strub ist Platzwart der Rasenplätze im Gurzelen.
Foto: Sven Thomann
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Auch der Gurzelen-Rasen ist heilig

Das Unkraut kämpft sich durch die alten Stadiontribünen, wo gelegentlich Rockkonzerte stattfinden. Von ganz oben führt eine lange Rutschbahn für Kinder mitten auf den Tschuttiplatz. An dessen Längsseite wächst Mais, Chili und anderes Biogemüse. Dahinter ein grosser Spielplatz mit verrosteten Geräten. Nur ein kleiner Schafzaun trennt die Plätze vom kreativen Multikulti-Chaos rundherum. «Um die Hündeler, die ihre Hunde nicht im Griff haben, vom Gelände fernzuhalten», so Studer.

Der heilige Gurzelen-Rasen sticht wie ein Bijou aus der Alternativ-Zone heraus. «Das Gras ist auf exakt 9 Millimeter geschnitten», sagt Hari Strub und beweist es mit einem speziellen Rasenschnitt-Messgerät, das er aus einem Holz-Schopf holt, in dem seine Rasenmäher stehen und Säcke voll Samen der Marke Ray, Dünger, Sand und Erde gelagert sind.

Hari ist einer der Platzwarte. Der «Groundsman», wie es im britischen Vaterland des Tennis heisst. Und er nimmt seine Aufgabe durchaus ernst. Um sein Wissen über Rasenbeschaffenheit und -pflege zu vertiefen, reisten die Tennis-Hippies vom Gurzelen vor zwei Jahren sogar nach Wimbledon, sprachen mit dem dortigen «Greenkeeper». «Eine beeindruckende Erfahrung», schwärmen alle.

Pipi wird zum Dünger verwertet

Mal abgesehen vom satten Grün und der wohlklingenden Adresse «Champagnerallee 2» erinnert hier nichts an den eleganten «All England Lawn Tennis Club», wo ab Montag die Championships starten. Hier werden weder Pimm’s-Cocktails geschlürft noch Erdbeeren mit Rahm verzehrt. Bier gibts und am Wochenende eritreische Kost aus der offenen Küche.

Eine Führung über das Terrain offenbart einen alten Busanhänger als Indoor-Lounge, ein hoch gebautes Holzdeck als VIP-Loge und ein weiterer Schopf, der als Garderobe genutzt wird und wo die Mietschuhe stehen. Auch eine Dusche gibts – hinter einer Plane versteckt am Wasserschlauch. Eine Ballwand, auf der sich Graffiti-Künstler in Abständen ausleben dürfen, und eine selbst gezimmerte WC-Kabine aus Holz. «Pipi» steht gross darauf – und dem kommt in Gurzelen besondere Bedeutung zu: Der Urin wird nämlich in drei Plastikcontainern gesammelt und nach der Verarbeitung verdünnt im Gurzelen als Dünger genutzt.

An nachhaltigen Ideen fehlt es im Tennisklub Kunterbunt nicht. «Hier wurde kein Brett, kein Nagel eingekauft, alles ist von uns aus alten Teilen des Stadions zusammengebastelt», erzählt Studer. Belustigt verweist er auf die alten Eternit-Werbebanden des Fussballfelds, die nach dem Abbau der neuen zum Vorschein kamen und auch die Tennisplätze umsäumen. «Damals durfte man bei Sportevents noch Alkohol- und Zigarettenwerbung machen.» Ein kultiges Schild sei als Fotosujets für Tennisgäste besonders beliebt: «Bier ist etwas Gutes».

Swiss-Tennis-Profis sind Stammgäste

Der Klub hat rund 60 aktive Mitglieder, 20 Passive und Gönner, über die sich das Unternehmen finanziert. «Die Kosten variieren je nach Einkommen zwischen 250 und 350 Franken pro Saison, damit decken wir die Materialkosten», erklärt Studer. Aber alle anderen Interessierten dürfen ebenfalls von Mittwoch (nur Kids) bis Sonntag den Filzball über die Wiese jagen – für 30 Franken und 5 Franken Miete für das richtige Schuhwerk ist man dabei. Den Rest der Zeit muss sich der Rasen erholen.

Denn auch Profis nutzen die in der Schweiz seltene Gelegenheit. Die Franzosen Gilles Simon und Pierre-Hugues Herbert, die Russin Vera Zwonarewa oder Swiss-Tennis-Spieler haben hier schon für die Rasensaison geübt. Dominik Stricker bereitete sich im Gurzelen mit Marc-Andrea Hüsler auf Stuttgart vor. Roman Valent, Stéphane Bohli, Simona Waltert waren schon da, Yves Allegro und Leandro Riedi zahlen aus Sympathie gar eine freiwillige Mitgliedschaft. Nachwuchs-Chef Michael Lammer kommt mit seinen Junioren vorbei – letzten Freitag mit Davis-Cup-Spieler Jérôme Kym.

Und übrigens: Sie alle kommen in Weiss. Ein bisschen Wimbledon-Feeling muss sein.

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