Aromatherapie im Schlachthof
Wie sich der Bell-Chef in Oensingen ein Denkmal setzt

Wer Fleisch isst, muss Tiere töten. Fleischverarbeiter Bell baut einen neuen Schlachthof, bei dem das Tierwohl wichtiger ist als die Rendite.
Publiziert: 13.05.2024 um 16:25 Uhr
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Aktualisiert: 14.05.2024 um 07:27 Uhr
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Stefan Barmettler und Seraina Gross
Handelszeitung

Fort Collins, Colorado. Temple Grandin sitzt in ihrer Küche vor einem dampfenden Morgenkaffee und redet über ihre Passion: über Schlachthäuser, Kühe, Schweine – und über Manager, die sie nicht mag. «Am schlimmsten ist das Mittelmanagement», sagt sie. Wenn diese Herrschaften nur endlich begriffen, worauf es in der Fleischindustrie ankommt – auf Einfühlsamkeit.

Artikel aus der «Handelszeitung»

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«Wir müssen uns in die Psyche der Tiere hineindenken, um das Leiden zu minimieren.» Stattdessen aber starrten die Managerinnen und Manager nur auf ihre Zahlentabellen, die ihnen vorgeben, wie viele Kühe und Kälber pro Stunde durch dunkle Gänge der Schlachtung und Verwertung zugeführt werden sollen. Wie am Montageband einer Autofabrik, wo nur der Output zählt.

Temple Grandin, Tierpsychologin aus Colorado: Sie weiss, was Kühe fühlen.
Foto: ZVG

Grandin trägt heute ein rot kariertes Hemd wie ein Country-Star an einem Rodeo-Event im ruralen Amerika. In jungen Jahren ging sie gerne an diese Anlässe, doch mittlerweile sind die Reisen in die Provinz der 78-Jährigen zu beschwerlich. Ohnehin hat sie zu tun. Sie ist Expertin für die Planung von Schlachthöfen, die das Tierwohl hochhalten wollen. Sie berät industrielle Fleischverarbeiter rund um den Globus. «Ich habe gegen 500 Schlachthöfe analysiert», sagt sie. Ihr Rat ist auch in der Schweiz gefragt.

Bell-Chef Lorenz Wyss auf der Schlachtstrasse in Oensingen: «Wir müssen Tiere töten, aber darum herum können wir eine Menge richtig machen.»
Foto: © Stephan Rappo

160 Millionen für einen Schlachthof

Oensingen, Kanton Solothurn. Zwischen Bürobedarf, Karosseriespengler und Puma-Outlet baut der Fleischkonzern Bell einen Schlachthof. Bell-Chef Lorenz Wyss kommt ins Schwärmen, wenn er vom 160-Millionen-Projekt redet. Eine «Herzensangelegenheit» sei der neue Schlachthof, sagt er, «das schönste Projekt, das ich in meiner Laufbahn realisieren durfte». Und: «Wir machen hier etwas Wichtiges richtig.» Die Produktion von Nahrungsmitteln: Pro Jahr isst jede und jeder im Land 47,5 Kilo Fleisch. Wyss liefert.

Der Industriebetrieb, so gross wie ein Flugzeughangar, ist der Schlusspunkt seiner Karriere, die vor 29 Jahren bei Bell begann und Ende Mai, also in ein paar Tagen, endet. Es ist wie ein Schlussfeuerwerk: Neben dem Neubau wird ein Slicer-Zentrum für die Zerlegung und Verpackung von Koteletts, Kutteln und Kalbsfilets errichtet, dazu ein Logistikbau – das Volumen beträgt über die Jahre 600 Millionen Franken. Die Investition werde sich lohnen, ist Wyss überzeugt. 

In der Schweiz sind zwei Drittel der landwirtschaftlich genutzten Fläche Weiden – und die Umwandlung von Gras in Proteine kann nur die Kuh leisten. Eine Formel, die Bestand hat, weil sie für Nahrungsmittelsicherheit sorgt. Anders als das Schwein und das Huhn konkurrenziert die Kuh mit dem Menschen in der Nahrungskette nicht.

120 Tiere pro Stunde, eines alle 30 Sekunden

Wyss ist gelernter Metzger und kennt die Fleischverarbeiter in Brasilien, in den USA, in Australien, Irland oder Deutschland. Und selbst er ist an die Grenzen gekommen, etwa in Grossbetrieben in Denver, wo rund um die Uhr 300 Rinder pro Stunde geschlachtet werden. «Da ist das Tier kein Tier mehr, sondern eine Ware.» Dem kann er nichts abgewinnen, und er ist froh, dass ihm der eigene Verwaltungsrat den Rücken stärkte, obwohl mit einem Mehr an Rücksichtnahme auf die Tiere Mehrkosten entstehen.

Wichtig ist: Die Schlachtstrasse muss leicht aufwärtsgehen, denn Kühe gehen nicht gerne bergab.
Foto: © Stephan Rappo

In Oensingen liegt die Grenze bei 120 Tieren pro Stunde. Theoretisch könnte man dort 60 Prozent aller Schweizer Rinder, Kälber, Munis und Kühe schlachten. Doch der Fleischkonsum ist seit Jahren stabil bis leicht rückläufig; neue Schlachthöfe wird es hierzulande kaum mehr brauchen. Ohnehin ist ein Schlachthof mit Tiertransporten nicht unbedingt das, was sich die Bevölkerung in ihrer Umgebung wünscht. 

Wyss baut für Generationen und für hohe Ansprüche. Tierwohl, Nachhaltigkeit, Hygiene und Produktivität, alles muss stimmen. «Klar, wir müssen Tiere töten», sagt er, «doch es gibt vieles, was man dabei richtig machen kann.» 

Kühe sehen schlecht, das muss man wissen

Dazu gehört zum Beispiel der Boden der Schlachtstrasse, die letzten Meter im Leben von Rind, Kuh oder Kalb. Er darf nicht glitschig sein, muss stets die gleiche Farbe haben, soll Geräusche dämpfen, das Licht ja nicht verstärken. Und das Licht soll von oben senkrecht einfallen, denn Kühe sehen schlecht, brauchen lange, um bei einem Schattenwurf Konturen zu erkennen. Auch ein Lastwagenmotor oder Metallgeschepper bringt das Tier in einen Stress, der sich vermeiden lässt. Zudem muss die Temperatur im Betrieb stimmen: In Oensingen entsteht gerade der erste klimatisierte Schlachthof der Schweiz, und so kommen die Kühe im Sommer aus der Hitze in einen kühlen Stall – auch das beruhigt. Und soll in Oensingen an die vertraute Umgebung erinnern.

Nach der Anlieferung durch Transporter trotten die Tiere in einen engen Kanal; er ist kurvenreich und verleitet sie, dem Vorläufer zu folgen, damit sie ihn nicht aus den Augen verlieren. Und, das ist ebenfalls entscheidend, die Schlachtstrasse hat eine leichte Steigung, denn die Kuh fühlt sich sicherer, wenn es bergan geht, trittsicher sind sie bergab nicht. Klar, auch Videokameras sind installiert, vor allem der Zutrieb nach der Anlieferung ist eine heikle Phase in einer neuen Umgebung. Bei all dem geht es ausserdem um das Verhalten der Mitarbeitenden, denn Unruhe jeder Art führt im Schlachthof zu Stress. 

Temple Grandin weiss, wie Kühe fühlen

Stressvermeidung – das doziert Temple Grandin, die Kuhflüsterin aus Colorado, die seit Jahrzehnten auf allen Kontinenten durch die Schlachtstrassen kriecht und die Tiere bei jedem Schritt beäugt. Mehrmals haben ihr die Schlachthofbauer aus Oensingen ihre Baupläne zur Begutachtung zugeschickt, mehrmals hat sie diese mit Optimierungsvorschlägen retourniert. Sie sieht sich als Interessenvertreterin der Tiere, sie könne sich, sagt sie, in die Gefühlswelt von Kühen einfühlen, auch weil sie ein autistisches Kind war und unter Ängsten litt. Diese Sensibilität hilft ihr heute bei ihrer Arbeit. Sie berät nicht nur den Schweizer Fleischgrosshändler Bell, sondern auch Riesen wie McDonald’s, Burger King, Wendy’s, Whole Foods Market oder Rinderfarmen in Paraguay, Brasilien und Australien, die so gross sind wie 12’000 Fussballfelder. In den USA ist gegen ein Drittel aller Schlachthöfe nach den Empfehlungen von Grandin gebaut, nun wird ihr Know-how auch im Schweizer Mittelland umgesetzt.

Grandin ist eine weltweit führende Tierforscherin. Sie promovierte an der University of Illinois in Chicago in Tierwissenschaft, ist Professorin in Animal Science an der Colorado State University, hat unzählige Fachbücher publiziert und trägt diverse Ehrendoktorhüte. Ihr Buch «Livestock Handling and Transport» prangert die stundenlangen Tiertransporte von Kühen, Schweinen und Schafen in überladenen Trucks an; es gilt als Standardwerk, wird weltweit verkauft und hat wohl mehr bewirkt als die Tierschützer, die auch bei Bell immer wieder die Anfahrt zum Schlachthof blockieren. 

Tierwohl muss von ganz oben kommen

Ein Film über ihr Leben als Tierforscherin und als Autistin wurde mit Emmy Awards und Golden Globes ausgezeichnet. Das «Time Magazine» setzte sie auf die Liste der «100 Most Influential People». 2017 wurde sie in die National Women’s Hall of Fame der USA aufgenommen. «Den Tod ersparen kann ich den Tieren nicht, aber den Weg dorthin etwas weniger schlimm machen», ist ihr Credo. Daran arbeitet sie seit fünfzig Jahren.

Sie setze auf Top-down, sagt die Professorin im Western-Outfit; ein tiergerechter Umgang müsse in den Betrieben von ganz oben kommen. Am liebsten ist sie mit den Konzernchefs in den Schlachthöfen unterwegs, zwingt sie, auf glitschigen Böden zu laufen, die kaum Halt bieten. Zeigt ihnen, wie erschreckend es ist, wenn in einem abgedunkelten Schacht plötzlich ein Truck seine Hupe erschallen lässt. «Erst wenn die Chefs diese Erfahrungen machen, wissen sie, dass man die Tierseele verstehen muss.»

Auch ein Schlachthof muss sich rechnen

Doch auch im Schlachthof gelten die Regeln der Betriebswirtschaft. Es wird optimiert, beim Tod, beim Filetieren, beim Verpacken. Der Bolzenschuss müsse, um dem Tier Leid zu ersparen, zu 95 Prozent perfekt sitzen, sagt Grandin. «Noch besser sind 99 Prozent.» Der Schlag zertrümmert das Grosshirn und schickt das Tier in den klinischen Tod. Und damit kein Knall die wartenden Tiere in die Flucht treibt, erfolgt der Antrieb hydraulisch, das macht keinen Lärm. 

Auch mit Aromatherapie hat es die Forscherin schon versucht. Und zwar in einem Schlachthof in Australien, in dem der Duft von frischem Heu so etwas wie den vertrauten Stallgeruch simulieren soll. Ebenso wird mit einer Geräuschkulisse aus einem Stall experimentiert. «Acid Rock oder Country Music sind ungeeignet», weiss Grandin. Die Erfahrung zeigt: Hintergrundgeräusche sind nur dann sinnvoll, wenn die Tiere sie schon aus ihrem Stall kennen. Sonst sind die Geräusche kontraproduktiv, sorgen für Unruhe.

38 Grad und feucht – das war früher

Lorenz Wyss will mit Temple Grandin nicht nur beim Tierwohl einen Standard setzen, sondern auch beim Wirtschaftlichen. Bei der Effizienz, aber auch beim Arbeitsplatz. Wer heute noch Nachwuchs für den Beruf des Metzgers oder der Metzgerin gewinnen will, der muss etwas bieten. Das Ausbeinen einer Rinderschulter im Hygieneraum ist Knochenarbeit, dazu erfordert der feine Schnitt ein solides Wissen darüber, wie Muskelstränge verlaufen. Denn es geht um kostbare Rohprodukte, die in den Läden hohe Preise erzielen. Die Verarbeitung wird hierzulande vorab von Ausländern und Grenzgängerinnen erledigt. Um die Arbeit zu vereinfachen, sind in Oensingen klimatisierte Arbeitsplätze die Norm. Früher war das Malochen in der Grossmetzgerei eine Qual, besonders im Sommer: das Lärmen der Sägen, dazu 38 Grad und 70 Prozent Luftfeuchtigkeit. «Da hat sich das Kondenswasser in den Stiefeln gesammelt», erinnert sich Bell-Chef Wyss. 

Damit lockt man heute keine Gen-Z-lerinnen und Gen-Z-ler in die Fleischverarbeitung. Also wird auf Automation gesetzt: klimatisierte Räume bei 22 Grad, hydraulische Schneider, die keinen Lärm machen, Arbeitsplätze, die in der Höhe verstellbar sind, damit man mit Gravitation und nicht mit Muskelkraft ein Hinterviertel bearbeiten kann. 

Heute bestellen, morgen liefern

Und dabei geht es auch um Tempo in der Produktion: Je schneller das Tierfleisch in die Kühlräume kommt oder nach dem Schnitt in die Verkaufsregale, desto länger kann es verkauft werden und desto geringer der Food Waste. Heute bestellt, übermorgen geliefert – das war früher. Neu bekommen die Filialleiterinnen in den Coop-Läden am nächsten Morgen die Ware früh angeliefert, wenn sie sie am Vortag bis 15 Uhr bestellt haben.

Schnell muss es gehen. Und möglichst wenig Abfall soll entstehen. Entsorgt werden von einem Rind nur noch das Gedärm und die Schädeldecke, alles andere wird verarbeitet und verkauft. Selbst das Blut der Tiere wird verarbeitet und landet in Nahrungsmitteln oder im Rosendünger. Und was in der Schweiz die Kundschaft nicht will, geht in den Export. Nichts ist dem Zufall überlassen.

Noch dominiert die Handarbeit

Noch dominiert die Handarbeit bei den Fleischverarbeitern, doch die Automatisierung rückt auch hier vor. Voll automatisiert ist die Verarbeitung von Geflügel, bei Schweinen liegt der Anteil bei 60 Prozent, bei Rindern und Kühen ist er viel kleiner. Noch ist künstliche Intelligenz noch nicht so weit, dass sie mit den unterschiedlichen Massen von Kühen, Kälbern und Rindern klarkommt. Noch ginge beim Ausbeinen viel zu viel wertvolles Fleisch verloren. Doch das ist nur noch eine Frage der Zeit, der Trend ist klar: In US-Grossbetrieben sind bereits heute Roboter im Einsatz. Das wird wohl auch in Oensingen in ein paar Jahren der Fall sein, jedenfalls sind bereits die Betonsockel gegossen, auf denen dereinst Automaten die Handarbeit reduzieren oder eliminieren.

120 Mitarbeitende beschäftigt Bell in Oensingen, 67 davon arbeiten an der Schlachtstrasse. Vorarbeiterinnen und Vorarbeiter, wie bei den grossen deutschen Fleischverarbeitern, die in Baracken neben den Tierfabriken wohnen, gibt es in der Schweiz nicht. Viele der Mitarbeitenden sind Grenzgängerinnen und Grenzgänger, kommen aus dem Badischen, und die Portugiesen und Portugiesinnen, von denen es hier viele gibt, haben hier eine Niederlassung. 

Ein weiteres Grossprojekt, das ihm wichtig ist, hat Wyss, der bald abtritt, in Angriff genommen: Bell will vermehrt Kaderfrauen für Jobs beim Nahrungsmittelkonzern begeistern. Als Aushängeschild für die Aktion wirkt Doris Leuthard, ehemalige Bundesrätin und heute Vizepräsidentin der Bell Food Group.

Zu dieser Ambition passt die Expertin Temple Grandin, die Bell beim Bau des neuen Schlachthofs beraten hat, bereits bestens.

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