Blinde Aktivistin Caroline Casey
«98 Prozent aller behinderten Kinder sehen nie ein Schulzimmer»

Caroline Casey erfuhr erst als 17-Jährige, dass sie blind ist. Am WEF in Davos hat die Irin ein Riesenprojekt zur Integration von Menschen mit Behinderung lanciert.
Publiziert: 22.01.2023 um 10:16 Uhr
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Aktualisiert: 22.01.2023 um 14:08 Uhr
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Danny SchlumpfRedaktor SonntagsBlick

Frau Casey, Sie sind blind – und haben erst als 17-Jährige davon erfahren. Wie ist das möglich?
Caroline Casey: Ich bin mit okulärem Albinismus zur Welt gekommen. Davon sind die Augen betroffen. Ich sehe nur 30 Zentimeter weit. Aber meine Eltern wollten, dass ich ohne ein Behinderten-Etikett aufwachse. Also setzten sie mir eine Brille auf und schickten mich in eine normale Schule.

Klingt bemerkenswert.
Sie wären überrascht, wie viele Menschen mit nicht diagnostizierten Einschränkungen leben. Der menschliche Charakter ist sehr anpassungsfähig. Wenn ich als Kind Hindernisse nicht sah, in Wände lief oder zu Boden fiel, sagte mein Vater: Finde eine Lösung.

Wie erfuhren Sie von Ihrer Behinderung?
An meinem 17. Geburtstag absolvierte ich eine Fahrstunde. Da merkte ich, dass ich unmöglich Auto fahren konnte. Ich hätte nicht einmal auf ein Fahrrad sitzen dürfen!

Die irische Unternehmensberaterin Caroline Casey erfuhr erst als 17-Jährige, dass sie blind ist.
Foto: Zamir Loshi
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Wie haben Sie reagiert?
Ich wollte nichts davon wissen. Ich wollte Party machen und dann studieren. Also habe ich die Behinderung versteckt. Ich erzählte niemandem davon, machte ein Studium und wurde Managerin beim Beratungsunternehmen Accenture. Aber diese Selbstverleugnung ist sehr anstrengend. Irgendwann habe ich einen Schnitt gemacht, meinen Job gekündigt und mich der Inklusion von Behinderten verschrieben.

Wie steht es heute um diese Inklusion?
Der Ausschluss von Menschen mit einer Behinderung ist eine Krise pandemischen Ausmasses. Sie betrifft 1,3 Milliarden Menschen. Diese haben eine 50 Prozent geringere Chance auf einen Job und ein 50 Prozent höheres Risiko, in Armut zu leben. 98 Prozent der behinderten Kinder sehen nie ein Schulzimmer.

Vor drei Jahren starteten Sie das Projekt «The Valuable 500». Sie wollten 500 grosse Unternehmen dazu bringen, sich auf konkrete Vorgaben zur Integration behinderter Menschen zu verpflichten. Den Anfang machten Sie am WEF 2019 in Davos. Ein hartes Pflaster!
Ob Ihnen das gefällt oder nicht: Das WEF ist eine der grössten Zusammenballungen von Macht in der Welt. Und ich wollte die Inklusion behinderter Menschen auf direktem Weg in die Führungsetagen der Firmen tragen.

Sie hatten Erfolg. Dieses Jahr haben Sie am WEF die Valuable 500 präsentiert. Von Coca-Cola bis Microsoft – 500 internationale Unternehmen mit 22 Millionen Angestellten haben sich zu mehr Inklusion verpflichtet. Aber was heisst das konkret?
Diese Unternehmen arbeiten an drei Aufgaben: Sie suchen Talente mit einer Behinderung, kümmern sich um die Sichtbarkeit des Themas gegen aussen und füllen das schwarze Loch im Daten-bereich. Ende 2025 werden sie die Ergebnisse in ihren Geschäftsberichten publizieren.

Das tun einige von ihnen doch schon heute?
22 Prozent, aber sie berichten über Kraut und Rüben, weil es keine Standards gibt. Deshalb geben wir ihnen fünf Kriterien für ihre Berichte vor: Wie viele Angestellte haben eine Behinderung? Welche Ziele verfolgt das Unternehmen im Bereich der Inklusion und wie viel Geld wendet es dafür auf? Gibt es Trainingsprogramme für Angestellte mit Behinderung? Hat diese Gruppe eine Vertretung im Unternehmen? Sind die Integrationsbemühungen online einsehbar?

Warum stellen sich die Firmen solche Fragen nicht schon längst von alleine?
Weil sie die Dringlichkeit nicht erkennen. Wir sprechen von 1,3 Milliarden Menschen. Das sind übrigens nicht nur potenzielle Angestellte, sondern auch Konsumenten. Wer zur Hölle verzichtet freiwillig auf eine Milliarde Kunden?

Die Valuable-500-Firmen haben alle mehr als 1000 Angestellte. Warum?
Kleine und mittlere Unternehmen sind bei der Einbindung von Menschen mit einer Behinderung viel weiter. Sie sind familiärer und erkennen die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden schneller und klarer. Bei grossen Konzernen sieht das ganz anders aus. Hinzu kommt: Es gibt 163 Millionen Unternehmen weltweit. Wir können sie nicht alle gleichzeitig erreichen. Deshalb starten wir mit diesen 500 grossen Akteuren. Sie haben die nötige Durchschlagskraft, um neue Standards zu setzen.

Auch Schweizer Firmen sind dabei. Welche Rolle spielen sie?
Eine entscheidende, weil sie über eine grosse internationale Ausstrahlung verfügen. Wir haben Nestlé, Zurich, Roche, Credit Suisse, UBS, Generali und Logitech, um nur einige zu nennen. Die Schweizer Unternehmen spiegeln auch die Zusammensetzung der Valuable 500: Es sind Akteure aus sämtlichen Branchen mit dabei, unter ihnen Apple, Lidl, Michelin und Sony.

Wie verhindern Sie, dass diese Firmen Ihr Projekt lediglich für Schönfärberei missbrauchen, um das eigene Image aufzupolieren?
Die CEOs der Valuable 500 mussten persönlich ihre Unterschrift unter die Vereinbarung setzen. Es geht also auch um ihren ganz persönlichen Ruf. Sie deklarieren, wie sie die Sache angehen, und geben über ihre Tätigkeiten Rechenschaft. All das finden Sie auf unserer Website.

Das genügt?
Weil das alles öffentlich ist, können die Angestellten dieser Firmen ihre Chefs in die Pflicht nehmen. Die Medien können verfolgen, ob die CEOs ihre Verpflichtungen wahrnehmen. Und wir kontrollieren sie selbstverständlich auch. Ende 2025 präsentieren wir schliesslich sämtliche Daten in Tokio. Das wird die grösste Rechenschaftsveranstaltung der Welt.

Vor 20 Jahren ritten Sie auf dem Rücken eines Elefanten durch Indien und sammelten 250'000 britische Pfund für die nationale Blinden-Organisation von Irland. Wie finanzieren Sie heute Ihre eigenen Aktivitäten?
Mein Mann und ich haben drei Hypotheken auf unser Haus aufgenommen, unser Team arbeitete gratis. Jetzt erhalten wir Unterstützung von einer grossen Förderorganisation. Wir sind völlig unabhängig von den Akteuren, die wir kontrollieren.

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