Das grosse Interview mit WEF-Gründer Klaus Schwab
«Wir werden eine sympathischere Gesellschaft!»

Im Gespräch mit dem SonntagsBlick Magazin schaut WEF-Gründer Klaus Schwab (81) zurück auf 50 Jahre in Davos – und vorwärts. Und zwar optimistischer als so manch anderer.
Publiziert: 29.12.2019 um 10:40 Uhr
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Aktualisiert: 20.01.2020 um 08:53 Uhr
Interview: Christian Dorer

Welche Persönlichkeit kann von sich behaupten, eine weltweit bedeutende Organisation seit einem halben Jahrhundert zu führen? Vermutlich nur eine einzige: Klaus Schwab (81), Gründer des World Economic Forum (WEF). Im Januar findet in Davos GR das 50. Jahrestreffen statt, und es ist bis heute das hochkarätigste Forum der Welt mit fast 3000 Teilnehmern – Staatschefs, Ministern, CEOs, NGO-Chefs, Publizisten. Wir treffen Schwab in seinem Büro am WEF-Hauptsitz in Cologny GE und lassen ein halbes Jahrhundert Weltgeschichte Revue passieren.

Das WEF gibt es seit 50 Jahren: Kommt Ihnen das kurz oder lang vor?
Klaus Schwab:
Beides. Der Wandel der letzten 50 Jahre war so gross wie in den 200 Jahren davor nicht. Für mich jedoch ist diese Zeit sehr rasch vergangen. Ich fühle mich wie ein Surfer auf der Geschichte der Welt. Als Surfer bin ich so stark fokussiert, dass ich mir gar nicht bewusst bin, wie die Zeit vergeht.

Wie haben Sie es geschafft, ein halbes Jahrhundert lang mit der Zeit zu gehen und nicht abzuhängen?
Die Neugierde ist meine Triebkraft. Als Ingenieur und Wirtschaftswissenschafter bin ich technologisch, wirtschaftlich und politisch interessiert. Ich habe mich immer gezwungen, Texte zu veröffentlichen und damit permanent meine Gedanken zu strukturieren.

2001 hätten Shimon Peres und Palästinenserführer Jassir Arafat in Davos ein Friedensabkommen verkünden sollen. Völlig überraschend hielt Arafat eine feindselige Rede – und liess das Abkommen platzen. Für Klaus Schwab war dies der Tiefpunkt in 50 Jahren WEF.
Foto: Keystone
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Wie oft schauen Sie zurück?
Wenn Sie mich heute fragen, wie das Thema des letzten Jahrestreffens lautete, müsste ich angestrengt nachdenken. Ich schaue immer in die Zukunft. Es ist mir wichtig, zu vergessen, was war. Sonst bin ich zu sehr von der Vergangenheit beeinflusst.

Wie hat vor 50 Jahren alles begonnen?
Ich kam mit viel theoretischem Wissen von der Harvard Business School zurück. An meiner ersten Stelle half ich, die Escher-Wyss-Gruppe in die Sulzer-Gruppe zu integrieren. Da fragte mich der Verein der Deutschen Maschinenbauanstalten, ob ich ein Buch zum Thema «Moderne Unternehmungsführung» schreiben könnte. Darin überlegte ich mir, was eigentlich der Zweck einer Unternehmung ist. So habe ich die Stakeholder-Theorie konzipiert, die heute breit akzeptiert ist: Ein Unternehmen ist nicht nur eine wirtschaftliche Einheit, sondern ein soziales Gebilde und hat als solches eine Verantwortung nicht nur gegenüber den Aktionären, sondern auch gegenüber den Kunden, der Gesellschaft und den Mitarbeitenden.

Und warum eine Konferenz in Davos?
Wegen dieses Urgedankens. Ich wollte eine Plattform gründen, bei der sich alle Stakeholder treffen können. Schon früh luden wir auch Kritiker wie Konsumentenschützer Ralph Nader und Umweltaktivist Franz Weber ein. Wir haben als Erste dem wachstumskritischen Club of Rome eine Plattform gegeben. Oder Petra Kelly, der Greta Thunberg der 1970er-Jahre. Auch bei Greta waren wir vor einem Jahr die Ersten.

Ärgert Sie der Vorwurf, das WEF sei ein in sich geschlossener, elitärer Zirkel?
Ja, das ärgert mich, weil von Anfang an alle Stakeholder involviert waren, auch die kritischen.

Welche Erinnerungen haben Sie an das erste Treffen 1971?
Um es durchführen zu können, halfen mir meine Eltern finanziell, und ich musste einen Kredit aufnehmen. Ich bekam ihn von einem Unternehmer ...

Von welchem?
Die Firma hiess Hukla und war Weltmarktführerin in der Produktion von Möbeln. Wir hatten eine unethische Abmachung: Kann ich den Kredit nicht zurückzahlen, dann verpflichte ich mich, in die Geschäftsführung einzutreten. Was ja auch keine schlechte Karriere gewesen wäre (lacht).

Hätten Sie beim ersten Treffen gedacht, dass es 50 würden?
Nie! Ich hatte nicht die Absicht, eine bleibende Institution zu schaffen. Während des erstens Treffen sagten die 444 Teilnehmer – an die Zahl erinnere ich mich noch genau –, dass dies eine interessante Idee sei. Ich zahlte den Kredit vom ersten Treffen zurück und mit den 27'000 Franken Überschuss gründete ich die Stiftung.

Am ersten Treffen lernten Sie Ihre Frau kennen, die sich als Sekretärin beworben hatte. Welche Rolle spielte diese private Verbundenheit, dass das WEF zum Lebenswerk von Ihnen beiden wurde?
Wir sind ein Tandem, das sich sehr gut ergänzt. Ich bin Wissenschaftler, der gerne Konzepte entwickelt. Sie ist praktisch veranlagt und das soziale Gewissen. Sobald wir Kinder hatten, hörte sie offiziell auf. Seit 1973 stellt sie ihre Zeit unentgeltlich in den Dienst des Forums und spielt bis heute eine sehr wichtige Rolle. Als Ergänzung zum Forum haben wir die Stiftung für Social Entrepreneurs geschaffen. Die leitet sie. Und sie macht alles, was mit Kunst und Kultur zu tun hat.

Ist es nicht schwierig, wenn man zu Hause nur ein Thema hat?
Im Gegenteil! Es ist schön, dass wir in unserer beinahe 50-jährigen Ehe ein gemeinsames Diskussionsobjekt haben.

Wie feiern Sie privat 50 Jahre WEF?
Das ist eigentlich ein Geheimnis. Ich verrate es Ihnen (lacht): Mit Tochter, Sohn, Schwiegertochter und den beiden Grosskindern gehen wir im April für eine Woche alle gemeinsam auf eine Urlaubsreise.

Welches war Ihre prägendste Begegnung in all den Jahren?
Nelson Mandela – Madiba, wie er genannt wird. Wir hatten bereits während der Apartheid Kontakt mit seiner Partei aufgenommen, dem ANC. Ich war der Allererste, der ihn nach der Freilassung in Johannesburg besuchte. Das war gleichzeitig der gefährlichste Moment meines Lebens, da ich in eine grosse Demonstration mit mehreren Toten geriet. Ich hatte ein derart gutes Verhältnis mit Mandela aufgebaut, dass ich ihn regelmässig sah und er nach Davos kam.

Warum hat er Ihnen so imponiert?
Ich habe sehr viele Führungspersönlichkeiten kennengelernt. Ich beurteile sie immer nach fünf Kriterien: Verstand – verstehen sie ihr Handwerk und haben Visionen? Seele – verfügen sie über einen Wertekompass? Herz – bringen sie Leidenschaft mit? Muskeln – haben sie die Durchsetzungskraft, können Ideen auch umsetzen? Nerven – trotzen sie allen Widrigkeiten? Nelson Mandela war derjenige, der alle fünf am besten verkörperte. Bei den meisten fehlt eine Dimension.

Zum Beispiel?
Bei Obama fehlten die Muskeln, um seine Wahlversprechen umzusetzen. Ebenso bei Clinton: Er hat die Chance verpasst, nach dem Fall der Mauer eine neue Beziehung zum Osten aufzubauen.

Was war die grösste Enttäuschung in 50 Jahren?
Israels Premier Shimon Peres und Palästinenserführer Jassir Arafat wollten 2001 in Davos ein Friedensabkommen verkünden. Alles war minutiös geplant. Da weigerte sich Arafat im letzten Moment, als Erster zu sprechen, weil er angeblich seine Rede im Hotel vergessen hatte. Also begann Peres und verkündete, dass nun endlich Friede sei. Darauf hielt Arafat eine Hassrede und provozierte einen Eklat. Peres sagte danach, dass er für eine Hochzeit nach Davos gereist sei und jetzt an einer Scheidung teilnehme. Eine Woche später waren Wahlen in Israel. Peres hatte sein Gesicht verloren und Likud, die Opposition, gewann.

Wie haben Sie reagiert?
Mich trieb das so stark um, dass ich Arafat drei Monate später in Ramallah besuchte und ihn fragte, warum er das gemacht habe. Er sagte, Likud hätte sich sowieso nicht an das Friedensabkommen gehalten. Dass die Likud aber wegen seiner Sabotage überhaupt an die Macht kam, liess er dabei weg. Seine Leute sagten, er wollte den Friedensvertrag einfach nicht.

Was war Ihr grösster Erfolg?
Da ist zuerst der intellektuelle Einfluss: Das Stakeholder-Konzept hat sich trotz Kritik von Milton Friedman durchgesetzt, der sagte: «The business of business is business», also in etwa «beim Geschäft gehts nur ums Geschäft». Politisch haben wir immer wieder als informelle Plattform gedient. Das wichtigste Ergebnis war das sogenannte Davos-Abkommen zwischen der Türkei und Griechenland, das ich einfädelte. Es hat einen Krieg verhindert zu einem Zeitpunkt, als beide Armeen schon teilmobilisiert waren.

Das Motto des WEF heisst «improving the state of the world» – den Zustand der Welt verbessern. Das tönt ziemlich hochgestochen.
Mag sein, aber es ist so: Wir haben die Lebensbedingungen von Hunderten Millionen Menschen positiv beeinflusst. Am meisten stolz bin ich auf unsere Impf-Initiative Gavi «Global Alliance for Vaccines and Immunizations»: Bis heute wurden so mehr als 700 Millionen Kinder geimpft. Ohne diese Initiative wären 14 Millionen Menschen gestorben. Bill Gates hat sich damals verpflichtet, die Idee mit 750 Millionen Dollar zu unterstützen.

Was haben Sie in diesen 50 Jahren nicht kommen sehen?
Den Fall der Mauer. Ich erinnere mich, wie ich am Fernseher sass und mir das anschaute – total überrascht. Die Wende begann unbemerkt mit der Rede des deutschen Aussenministers Hans-Dietrich Genscher 1987 in Davos, von der er in seinen Memoiren später sagte, dass es die wichtigste in seinem Leben war, weil sie das Ende des Kalten Kriegs einläutete. Im Juli 1989 haben wir einen ersten Roundtable in Ost-Berlin durchgeführt. Dass die Mauer so schnell fallen würde, war nicht vorhersehbar.

Sie sind 81 und noch voll im Schuss. Es scheint, als würden Sie nicht altern. Haben Sie einen Zaubertrank?
(Lacht) Leider nicht, aber ich trinke jeden Tag einen Granatapfelsaft, weil das anscheinend besonders gesund ist. Und ich versuche, mich sportlich zu betätigen. Obwohl meine Frau permanent meine fünf Kilo zu viel moniert.

Es ist selten, dass jemand in Ihrem Alter noch derart im Saft ist.
Die Welt ist so interessant. Ich war allein in den letzten drei Wochen in Riad, Moskau, St. Petersburg, New York und Washington, ich traf die Präsidenten Putin und Trump, in Italien war ich beim Ministerpräsidenten und in Frankreich an einem Streitgespräch vor 700 Unternehmern mit dem Chefredaktor von «L’Humanité» (Anm. d. Red.: kommunistische Tageszeitung).

Wie lange werden Sie im Amt bleiben?
Ich habe das Glück, dass ich eine sehr gut funktionierende Organisation und eine tolle Führungsmannschaft habe. Das Forum ist auch ohne mich sehr gut aufgestellt. Gleichzeitig glaube ich, dass ich durchaus noch einen Platz habe, solange die Leute am Montagmorgen hoffen, dass ich nicht mit zu vielen neuen Ideen vom Wochenende ins Büro komme.

Sie untertreiben: Sie alleine sind derart vernetzt mit allen Präsidenten, Regierungschefs und CEOs dieser Welt.
Ich habe vielleicht die grösste Erfahrung. Aber unser Präsident Børge Brende wird genau so auf Minister- oder Staatschef-Ebene empfangen. Ich bringe mich ein, soweit ich das kann, und habe das Gefühl, dass ich noch einiges bewirken kann.

Was möchten Sie noch erreichen?
Wir haben das Jahrestreffen in Davos schon lange auf 3000 Gäste begrenzt, obwohl wir problemlos ein Mehrfaches davon begrüssen könnten. Rund 800 Personen arbeiten ganzjährig für das Forum. Es ist nicht unsere Absicht, noch stark zu wachsen. Vielmehr wollen wir Plattformen für Zusammenarbeit ermöglichen. Wir beginnen mit den Ozeanen. Jeder kann seine Ideen für die Gesundung des Ozeans beisteuern, die Plattform bringt alle zusammen. Wenn das funktioniert, werden wir weitere lancieren.

Braucht es in einer digitalen Welt noch physische Treffen?
Unbedingt! Je mehr Sie sich in der digitalen Welt bewegen, desto mehr haben Sie das Bedürfnis, sich auch persönlich zu treffen. Digital können Sie nie dasselbe Vertrauen schaffen wie mit einer realen Begegnung.

Sie pflegen eine Art Hassliebe zu Davos. Wird das WEF dort bleiben?
Es besteht überhaupt keine Absicht, aus emotionalen Gründen abzuwandern. Für uns ist wichtig, dass 2800 Hotelzimmer und zusätzlich Unterkünfte für Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Das ist heute der Fall. Ärgerlich ist allerdings die Preistreiberei von Einzelnen…

… zum Beispiel ein Burger für 59 Franken.
Die Preistreiberei schadet uns. Und sie ist unfair denjenigen gegenüber, die sich korrekt verhalten. Jetzt läuft der erste Wucherprozess: Der Besitzer vermietete eine Wohnung zu einem vernünftigen Preis, der Mieter gab sie zum siebenfachen Preis weiter. Wir selber können nicht klagen, das muss der Besitzer machen. Ärgerlich ist auch der ganze Zirkus, der sich um das WEF aufbaut und mit dem wir nichts zu tun haben. Zum Beispiel gibt es eine Blockchain-Konferenz, die ihr Produkt in Davos ankündigt und sogar widerrechtlich unser Logo verwendet. Aber das wäre an anderen Orten wohl auch so.

Sie haben die Entwicklung der Menschheit über 50 Jahre intensiv verfolgt. Sind Sie optimistisch für die Zukunft – oder werden wir uns selber zerstören?
Es gibt zurzeit einen übertriebenen Pessimismus. Wenn ich die Welt vergleiche mit vor 50 Jahren, haben wir bedeutende Fortschritte gemacht. Wer spricht zum Beispiel heute noch von Analphabetismus? Auch Lebenserwartung und Lebensqualität haben wesentlich zugenommen. Die Bevölkerung hat sich von 4 auf 8 Milliarden verdoppelt, und doch leben weniger Menschen unter der Armutsgrenze.

Trotzdem scheint die Welt in Aufruhr zu sein.
Wir befinden uns in einer Übergangsphase von der Nachkriegswelt in eine neue Ordnung, die zuerst gestaltet werden muss. Ich bin optimistisch, dass dies gelingt. Mit der vierten industriellen Revolution müssen wir einen neuen Lebensinhalt finden.

Was wird das sein?
Der heutige Zweck des Daseins ist immer noch sehr stark definiert von Produktion und Konsum. Wir definieren uns darüber, was unsere Stellung im Beruf ist, welches Auto wir fahren, welche Uhr wir tragen. Das gibt uns unseren Lebenszweck. Weil es für den Menschen viel weniger Arbeit geben wird, wird sich das ändern müssen in «sharing and caring», das heisst wir werden vieles teilen, zum Beispiel das Auto, und wieder stärker füreinander sorgen. Wir werden eine sympathischere Gesellschaft!

Weil Roboter die Arbeit übernehmen?
Wir werden uns überlegen müssen, wie wir uns unterscheiden vom Roboter. Wir haben die grosse Möglichkeit, eine Zivilisation zu werden, bei der wirklich der Mensch im Mittelpunkt steht.

Bringt der Fortschritt auch das ewige Leben?
Potenziell ja. Das wird uns zwingen, noch mehr über unseren Lebenszweck nachzudenken. Im Moment herrscht die Logik: Ausbildung, Arbeit, Pensionierung und Geniessen bis zum Moment des Sterbens. Künftig wird die Ausbildung das ganze Leben lang dauern und die Arbeit auch. Weniger, aber länger.

WEF 2020

Vom 21. bis 24. Januar findet wieder das World Economic Forum (WEF) in Davos statt. Rund 2500 internationale Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft treffen sich zum Austausch.

Vom 21. bis 24. Januar findet wieder das World Economic Forum (WEF) in Davos statt. Rund 2500 internationale Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft treffen sich zum Austausch.

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