Dozent Philippe Wampfler kritisiert Arbeitsmarkt
«Wir müssen über schlechte Berufe reden»

Auch in der Schweiz gibt es Zehntausende Jobs mit kritischen Arbeitsbedingungen. «Es gibt viele schlechte Berufe», sagt Dozent Philippe Wampfler. Er fordert einen Dialog.
Publiziert: 09.02.2023 um 00:21 Uhr
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Aktualisiert: 10.02.2023 um 13:44 Uhr
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Martin SchmidtRedaktor Wirtschaft

In einem Punkt sind sich die meisten Menschen im Land einig: Wer Vollzeit arbeitet, sollte von seinem Lohn vernünftig leben können. Doch jede zehnte Person in der Schweiz verdient weniger als 4335 Franken, so die Zahlen des Bundesamts für Statistik. Gerade in der Landwirtschaft, in der Gastronomie, im Detailhandel oder bei Lieferdiensten liegen die Löhne teilweise gar deutlich darunter.

So auch im Fall von Mario K.*, der für ein Berner Logistikunternehmen gearbeitet hat und gerade mal 3500 Franken erhielt. Brutto. Und ohne 13. Monatslohn. Blick hat darüber berichtet. Ein Lohn, den die grosse Mehrheit der Schweizer Bevölkerung als ungerecht empfindet, so eine Untersuchung des Forschungsinstituts European Social Survey. Der Zürcher Lehrer und Dozent Philippe Wampfler (45) geht noch einen Schritt weiter.

Vor einigen Tagen kritisierte er an einer Veranstaltung mit Vertretern mehrerer Berufsverbände, dass es in der Schweiz zahlreiche «schlechte Berufe» gebe. Die Reaktionen waren heftig.

Dozent Philippe Wampfler übt heftige Kritik an der Schweizer Arbeitswelt.
Foto: Florian Bachmann
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Blick: Sind Sie mit Ihrer Einschätzung nicht viel zu hart?
Philippe Wampfler: Nein. Für viele ist das ein Tabuthema. Doch wir müssen darüber sprechen. Es gibt in der Schweiz nun mal zahlreiche schlechte Jobs, die niemand machen will.

Was meinen Sie damit?
Es gibt Mindestanforderungen an Berufe, die nicht verhandelbar sein dürfen. Die Leute müssen in ihrer Arbeit einen Sinn sehen, und die Arbeitsbedingungen müssen es zulassen, dass ihre menschlichen Grundbedürfnisse erfüllt sind. So dürfen Auszubildende nicht einfach primär als Arbeitskräfte angeschaut werden. Sie sind in den Betrieben, damit sie etwas lernen und einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen können. Da müssen wir genauer hinschauen.

Wo sehen Sie diese «schlechten Berufe»?
Arbeiten Eltern auf dem Bau, raten viele von ihnen den eigenen Kindern von der Arbeit auf dem Bau ab. Sie kennen die dortigen Arbeitsbedingungen und wollen, dass es ihre Kinder besser haben. Ein anderes Beispiel ist die Reinigungsbranche. Wer Büros putzt, muss oft ausserhalb der Bürozeiten am späten Abend oder in der Nacht arbeiten. Diese Arbeitszeiten lassen sich schlecht mit dem Familienleben vereinbaren. In diesen Branchen sind nicht alle Jobs schlecht, aber wir müssen hier ganz klar von strukturellen Problemen sprechen.

Wer Häuser baut oder Büros sauber hält, leistet doch eine sinnvolle Arbeit für die Gesellschaft!
So wie unsere jetzige Gesellschaft funktioniert, besteht für diese Arbeiten ganz klar eine Nachfrage. Es gibt aber noch eine andere, zentrale Frage: Wie fühlen sich die Leute, die diese Arbeiten ausführen? Nehmen wir mal den Beruf als Fleischfachmann oder -frau. Die Firmen haben riesige Mühe, Nachwuchs zu finden. Auch wenn viele Leute gerne Fleisch essen, will kaum jemand diese Arbeit machen. Die wenigsten sehen in der industriellen Tötung und Verarbeitung von Tieren eine sinnstiftende Tätigkeit, allein schon aus ethischer Sicht.

Zur Person

Philippe Wampfler arbeitet als Lehrer und ist Dozent am Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich. Zudem hat er Autor mehrerer Sachbücher zum Thema Bildung. Wampfler lebt in Zürich.

Philippe Wampfler arbeitet als Lehrer und ist Dozent am Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich. Zudem hat er Autor mehrerer Sachbücher zum Thema Bildung. Wampfler lebt in Zürich.

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Die Verantwortlichen in den Berufsverbänden dürften bei Ihren Worten das Metzgermesser wetzen.
Die Branchenverbände wollen natürlich wachsen und nicht schrumpfen. Doch es geht darum, was wir als Gesellschaft wollen. Wir müssten viel öfters die Frage stellen, ob die Arbeitsbedingungen mit der Würde des Menschen vereinbar sind.

Warum geschieht das Ihrer Meinung nach nicht?
Die meisten von uns sind froh, wenn jemand diese Arbeit erledigt, solange wir sie nicht selbst machen müssen.

Sie fordern also, dass jede Person einer Arbeit nachgeht, die ihr gefällt. Dafür gibt es doch schlicht zu wenig Jobs. Und auch ein schlechter Job sorgt am Abend für einen gedeckten Tisch.
Ich sage nicht, dass all diese Berufe abgeschafft gehören. Doch die Leute sollten sich wirklich für diese Berufe entscheiden können. Bei vielen Menschen entscheiden noch heute die wirtschaftlichen Zwänge über die Berufswahl. Sie werden von den Schulen und Verbänden in Berufe gedrängt, damit die Stellen besetzt werden können. Man macht den Betroffenen beispielsweise wegen schlechten Noten klar, dass das nun mal ihre Möglichkeiten sind. Die richtige Lösung für dieses Problem wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen, das die Grundbedürfnisse deckt.

Dann dürfte erst recht niemand mehr Jobs mit schlechten Arbeitsbedingungen ausüben …
Das sehe ich anders. Dann wären die Firmen unter Zugzwang, die Arbeitsbedingungen wie die Arbeitszeiten oder die Löhne zu verbessern. Es ist sicher nicht attraktiv, an sechs Tagen in der Woche nachts Büros zu putzen. Es gibt aber sicher Leute, die das bei besseren Bedingungen gerne zweimal in der Woche tun würden. Und das wäre dann auch mit dem Familienleben in Einklang zu bringen.

Wir haben einen akuten Fachkräftemangel. Ihre Forderungen würden das Problem weiter verschärfen.
Das ist die eine Seite, über die Wirtschaftsverbände und die Politik dauernd reden. Sie fordern, dass die Leute mehr und länger arbeiten, und wollen das mit Zwang erreichen. Doch viele Menschen möchten weniger arbeiten, wie jüngst eine Umfrage des Forschungsinstituts Sotomo bestätigt hat. Im Durchschnitt am liebsten drei Tage pro Woche. Würden aber mehr Menschen ihre Arbeit als sinnvoll erachten, wäre das Problem mit dem Fachkräftemangel sicher kleiner.

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