Förderung benachteiligter Jugendlicher zahlt sich aus
Abdulrahman Albuni wird Informatiker

Eine Studie zeigt: Die fehlende Förderung benachteiligter Jugendlichen kommt die Schweiz teuer zu stehen. Wie es anders geht, zeigt der Weg von Abdulrahman Albuni. Er wurde in der Oberstufe gefördert – und bildet sich nun zur Fachkraft aus.
Publiziert: 27.06.2023 um 18:02 Uhr
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Aktualisiert: 27.06.2023 um 18:03 Uhr

Die Gänge im Bürogebäude an der Limmat sind verwinkelt, die massiven Wände aus kühlem, grauem Beton. «Man sieht: Wir sind ein Bauunternehmen», sagt Abdulrahman Albuni mit einem Lächeln. Im weissen Hemd und dunklen Jeans führt der 19-Jährige durch den dritten Stock.

Albuni bildet sich bei der Sika AG in Zürich-Altstetten zum Informatiker aus. Nach der vierjährigen Lehre möchte er an eine Universität oder Fachhochschule. «Vermutlich Wirtschaftsinformatik», sagt der Flüchtling aus Syrien, der noch vor sieben Jahren nur Arabisch verstand. Während er heute durch die Büros der IT-Abteilung geht, spricht er in beinahe fehlerlosem Schweizerdeutsch.

«Ich war schon sehr beeindruckt von Abdulrahman», sagt Domenic Kissling (27) beim Rundgang. Er war für ein halbes Jahr Albunis Ausbildungsbegleiter. Albuni zeigt gute Leistungen, wird von seinen Lernbegleitern gelobt und geschätzt. Möglich machte dies unter anderem die gezielte Förderung in der Oberstufe.

Abdulrahman Albuni kam vor sieben Jahren in die Schweiz. Nun ist er im zweiten Jahr seiner Informatiklehre – unter anderem dank eines Förderprogrammes.
Foto: Philippe Rossier
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«Dank des Programms konnte ich mein Textverständnis verbessern»
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Abdulrahman Albuni (19):«Dank des Programms konnte ich mein Textverständnis verbessern»

Gute Noten dank Förderunterricht

Abdulrahman Albuni war an der Bezirksschule Baden AG zweieinhalb Jahre lang Teil des Förderprogramms «Chagall» der Institution Allianz Chance+. Die mehrheitlich über Stiftungen finanzierte Organisation betreut solche Programme in zahlreichen Schulen in der Deutschschweiz. Das Ziel: Die strukturellen Hürden für Jugendliche abbauen, die etwa aus einkommensschwachen Familien kommen oder die deutsche Sprache zu wenig beherrschen.

«Siebzig Prozent der Fähigkeiten, um gute Noten zu schreiben, lernte ich im Förderunterricht», sagt Albuni. «Auch wenn es nur zwei Stunden pro Woche waren.» Davor musste er sich deutsche Texte noch mittels Computerprogramm auf Arabisch übersetzen lassen, um sie wirklich zu verstehen. Heute, kaum vier Jahre später, sei weder das Leseverständnis noch das Schreiben ein Problem.

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«Wir haben in der Schweiz vier Pferde im Stall und spannen nur drei vor den Wagen»
Jürg Schoch, Präsident Allianz Chance+
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Als Informatiker arbeitet Albuni in einer Branche, die händeringend nach Fachkräften sucht. In der Schweiz fehlen nach den Gesundheitsberufen in der IT am zweitmeisten Arbeiterinnen und Arbeiter. Regelmässig warnen Berufsverbände aus allen Bereichen vor einem Mangel an Personal – kürzlich etwa der Baumeisterverband.

Bis 2035 würden gemäss einer Studie des Beratungsunternehmens Oliver Wyman über 300’000 Fachkräfte fehlen. Ein Grossteil davon könne durch die Förderung sozial benachteiligter Talente aufgefangen werden. Bis zu 29 Milliarden Franken und 14'000 junge Fachkräfte koste es die Schweizer Volkswirtschaft jährlich, darauf zu verzichten.

«Die Zahlen zeigen erstmals, dass es hier nicht nur um ein paar wenige Jugendliche geht. Es betrifft unsere Volkswirtschaft – und zwar massiv», sagt Jürg Schoch (67), Präsident von Allianz Chance+. «Ich sage immer: Wir haben in der Schweiz vier Pferde im Stall und spannen nur drei vor den Wagen.» Angesetzt werden müsse dort, wo selektioniert wird: etwa in der sechsten Klasse oder am Ende der Sekundarstufe.

Grosse Hürden für benachteiligte Jugendliche

«Es ist schön, sein Hobby zum Beruf zu machen», sagt Albuni. Im Alter von fünf Jahren bekam er seinen ersten Computer, war davon fasziniert. Sechs Jahre später musste er zusammen mit seiner Familie über das Meer nach Europa flüchten. Er kam in die Schweiz, lebte ein Jahr in verschiedenen Flüchtlingsheimen. Danach wurde er eingeschult. Zuerst in die vierte Klasse, nach einem Semester war er bereits in der fünften. Ein Jahr später durfte er an die Bezirksschule. Erst dort erfuhr er, dass er seine Faszination für Informatik auch im Beruf ausleben könne.

Dass Albuni seinen Traumberuf fand, ist keine Selbstverständlichkeit: Gemäss einer Umfrage bekundet ein Drittel der Jugendlichen, die gemäss ihrer sozialen Herkunft in den unteren 50 Prozent der Befragten liegen, Mühe mit der richtigen Jobwahl. Ihnen fehlen die Vorbilder, sie fühlen sich zu wenig unterstützt – trotz guter Leistungen. Auch die Finanzierung ihrer Ausbildung sehen sie als schwierig an.

«Fremdsprachige Jugendliche besitzen deutlich kleinere Chancen, ein höheres Bildungsniveau zu erreichen», sagt Schoch. Die Intelligenz und effektive Leistung seien dabei nur zweitrangig. «Viele Migranten können zwar innerhalb weniger Jahre massiv aufholen. Wenn sie jedoch in der Schweiz beispielsweise erst in der fünften Klasse eingeschult werden, haben sie in vielen Kantonen keine Chance.» Die Forschung zeige, dass Kantone, die ihre Sekundarstufe in wenigen und weniger streng getrennten Niveaustufen führen, eine grössere Chancengerechtigkeit aufweisen.

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«Ich musste den Weg alleine gehen»
Abdulrahman Albuni
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Auch Albuni sind die Hürden bewusst. «Ich musste den Weg alleine gehen», sagt er. Seine Eltern konnten ihn nicht unterstützen, auch sie mussten zuerst Sprachkurse besuchen. Er zeigt sich daher dankbar, dass ihn «Chagall» förderte. Es sei aber auch schwierig zu sagen, ob er ohne die Förderung an einem anderen Ort wäre. Denn auch seine Brüder, Mohamad (21) und Nouralden (17), schlugen einen ähnlichen Weg ein wie er selbst – ganz ohne Förderunterricht. Mohamad wird im Sommer seine Lehre als Polymechaniker abschliessen, Nouralden wird dann eine als Elektroniker beginnen. Technische Berufe scheinen Familiensache zu sein.

Seine Brüder hätten jedoch auch das mathematische Talent ihres Vaters Maher geerbt. «Ich selbst war in Mathematik nie gut», sagt Albuni. Er gleiche eher seiner Mutter Ghadir. Sprachen seien für ihn wichtiger. Beim Abschied teilt er mit, dass er morgen für zwei Wochen nach Malta reise. Das Ziel: ein Sprachzertifikat in Englisch.

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