Krankenkassen-Prämienanstieg im Herbst um 7,5 Prozent? Experte erklärt
Diese Fehlanreize sorgen für die Kostenexplosion

Im Jahr 2023 wurden die Krankenkassen-Prämien im Schnitt 6,6 Prozent teurer. Nun könnte es noch dicker kommen. Dabei sind sich Experten längst einig, wo es Anpassungen am System bräuchte, um das Kostenwachstum zu dämpfen.
Publiziert: 10.04.2023 um 21:12 Uhr
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Aktualisiert: 11.04.2023 um 12:16 Uhr
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Sarah FrattaroliStv. Wirtschaftschefin

Um 7,5 Prozent könnten die Krankenkassenprämien diesen Herbst erneut ansteigen, wenn sich die Kosten weiterentwickeln wie seit Anfang Jahr. «Wenn wir nichts unternehmen, fahren wir das Gesundheitssystem an die Wand», warnte Santésuisse-Direktorin Verena Nold (60) im SonntagsBlick.

Das beunruhigt die Blick-Leserinnen: Deutlich über 90 Prozent sagen in einer Umfrage, dass ihnen die Prämienentwicklung Sorgen bereite.

Ein Teil der Kostenexplosion im Gesundheitswesen ist erwünscht: Wir leben länger, sterben seltener an Krebs, die Kindersterblichkeit ist historisch tief. «Dafür sind wir bereit, Geld auszugeben», betont Gesundheitsökonom Tobias Müller (36), der an der Berner Fachhochschule zu den steigenden Gesundheitskosten forscht und unterrichtet.

Die Kosten im Schweizer Gesundheitswesen steigen ungebremst. Blick in eine Apotheke. (Symbolbild)
Foto: imago/Jochen Tack
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Der andere Teil des Kostenanstiegs hingegen ist unerwünscht. «Er entsteht durch Fehlanreize, mangelnde Transparenz und teilweise überhöhte Preise», so Müller. Blick zeigt, wo die Schwachstellen im System liegen – und wie sie behoben werden könnten.

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Fehlanreiz 1: Mengenbasierte Vergütung

Ärzte oder Spitäler können im ambulanten Bereich jede zusätzliche Leistung bei den Krankenkassen abrechnen. «Da muss man sich nicht wundern, wenn unnötige Leistungen erbracht werden», kritisiert Müller. Das beginnt beim überflüssigen Vitamin-D-Test und geht bis zu chirurgischen Eingriffen, die für den Patienten aus medizinischer Sicht gar nicht nötig wären.

Fehlanreiz 2: Veralteter Leistungskatalog

Kommt hinzu, dass in der Schweiz teils Eingriffe vergütet werden, die im Ausland längst als überholt gelten. «Es gibt seit 20 Jahren Belege dafür, dass eine Kniearthroskopie gegenüber einem Scheineingriff bei Arthritis nichts bringt», führt Müller aus. Dabei wird über kleine Schnitte eine winzige Kamera ins Gelenk eingeführt, um Knorpel und Meniskus zu betrachten sowie lose Knorpelteilchen zu entfernen. In der Schweiz gehört die Kniearthroskopie zu den häufigsten chirurgischen Eingriffen. «Der Eingriff wird durchgeführt, weil er immer noch vergütet wird», so Müller. Er schlägt vor, den Katalog der vergüteten Leistungen «durchzustrählen».

Fehlanreiz 3: Einträgliche Privatpatienten

Privatpatienten seien für Spitäler und Belegärzte extrem lukrativ, kritisiert Gesundheitsökonom Müller. «Man setzt ihnen ein neues Hüft- oder Kniegelenk ein, obwohl es vielleicht erst in zehn Jahren medizinisch notwendig wäre.» Privatpatienten bezahlen für ihre Privatversicherung zwar extra. Die Grundleistung allerdings – etwa das neue Hüft- oder Kniegelenk – wird trotzdem über die obligatorische Krankenpflegeversicherung abgerechnet und damit auf alle Prämienzahlerinnen verteilt.

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Fehlanreiz 4: Medikamentenabgabe

In der Schweiz geben nicht nur Apotheken, sondern auch Arztpraxen Medikamente ab. Die Ärzte verdienen dabei prozentual mit. Das führt dazu, dass sie nicht nur mehr, sondern vor allem auch teurere Medikamente verschreiben. In der Schweiz handelt es sich bei lediglich 22 Prozent aller verkauften Medikamente um Generika, in Deutschland liegt die Quote bei 83 Prozent.

Der Krankenkassenverband Santésuisse geht von einem Einsparpotenzial von jährlich 200 Millionen Franken oder 18 Prozent aus, wenn konsequent Generika statt Originale zum Einsatz kämen. Allerdings: Der ganz grosse Hebel bei den Gesundheitskosten sind die Medikamentenpreise nicht. Laut Angaben der Pharma-Branche sind sie für lediglich 12 Prozent der gesamten Gesundheitskosten verantwortlich.

Fehlende Transparenz

Wer eine neue Hausarztpraxis sucht, hat keine Chance zu erfahren, welche Praxis besonders gut arbeitet – man wählt die erstbeste. Ärzte müssen bei ambulanten Behandlungen ausserdem keine Diagnosen erfassen. Für die Kassen ist es so unmöglich abzuschätzen, ob zu viele oder zu wenige Leistungen erbracht wurden. «Im Vergleich zum Ausland sind wir da ein Entwicklungsland», sagt Müller. Anderswo gibt es nationale Datenbanken, die zeigen, welche Leistungserbringer besonders effizient arbeiten. Das verstärkt den Wettbewerb.

Hohe Preise

Die Preise patentgeschützter Medikamente werden in der Schweiz durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) alle drei Jahre überprüft und gegebenenfalls neu ausgehandelt. Bei anderen Leistungen im Gesundheitssystem ist das nicht der Fall. «Für ein Blutbild bezahlen wir rund 17 Franken. In Deutschland ist es weniger als 1 Euro», rechnet Müller vor. Die Tarife sind teils seit Jahrzehnten nicht neu ausgehandelt worden. Allerdings: Die Fehlanreize im System tragen deutlich stärker zu den hohen Schweizer Gesundheitskosten bei als die höheren Preise.

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