Langer Kampf um IV-Rente
«Immer denke ich darüber nach, wie ich beweisen kann, dass ich kein Simulant bin»

Nach einem Umfall kämpft Arsenije Nikolic* um seine IV-Rente. Seine Leidensgeschichte ist eine Odyssee – geprägt von Ohnmacht und Behördenfehlern.
Publiziert: 03.06.2024 um 13:56 Uhr
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Aktualisiert: 04.06.2024 um 08:56 Uhr
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Katharina Siegrist
Beobachter

Wenn sich Arsenije Nikolic* etwas wünschen könnte, würde er ins Jahr 2004 zurückreisen. Damals verdiente er gut. Der Körper funktionierte. Er musste niemandem etwas beweisen. Seither wurde Nikolic viele Male als Lügner hingestellt. Deshalb tritt er hier nicht mit seinem richtigen Namen auf. Bis heute leidet er an den Folgen eines Sturzes – und unter einem Gutachten der Pmeda. Die Firma, die mittlerweile in Liquidation ist, hat in vielen Fällen mangelhafte Gutachten erstellt und Versicherte mit zweifelhaften Argumenten gesundgeschrieben. Das fand die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung heraus. Auch Nikolic ist betroffen.

1971 kommt er im heutigen Serbien zur Welt. Die Mutter war vergewaltigt worden. Der Anblick ihres Sohnes erinnert sie jeden Tag daran – sie lässt ihn das mit Schlägen spüren. Als der Kleine zwei ist, geht sie in die Schweiz. Den Sohn lässt sie in einem Heim zurück. Als Fünfjähriger kommt er nach. Die Stadt Zürich steckt ihn auch hier ins Heim. Als Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen bekommt er 2023 eine Solidaritätszahlung. Ein schwacher Trost für eine verlorene Kindheit.

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Der verhängnisvolle Unfall

1998 stirbt die Mutter. Nikolic heiratet, wird Vater zweier Töchter, startet in einen neuen Job als Personalberater. 2004 dann der Fehltritt – wortwörtlich. Als er seiner kleinen Tochter hinterhersprintet, rutscht er aus und fällt unglücklich auf die Seite. Ein harmloser Zwischenfall, könnte man meinen. Doch es wird der Anfang einer Odyssee.

Seit bald 20 Jahren mit der IV im Clinch: Arsenije Nikolic.
Foto: Joël Hunn
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Nikolic hat plötzlich grosse Schmerzen: im Knie, in den Schultern, im Rücken, überall. Seine Ärzte gehen von einer Fehlstellung der Hüfte aus. Sie hat über Jahre unbemerkt zu Fehlbelastungen, Knorpelschäden und sogar Rissen in den Gelenken geführt, was nun als Schmerzen in den ganzen Körper ausstrahlt. Die Ärzte verschreiben Opiate, Schlafmittel und Antidepressiva.

Nikolic verliert den Job, 2005 beantragt er eine IV-Rente. Die Gutachter sagen, er könne arbeiten, wenn er wollte. Obwohl seine Ärzte die Schmerzen bestätigen, wird sein Antrag abgelehnt. Die Vorwürfe belasten ihn. «Immer denke ich darüber nach, wie ich beweisen kann, dass ich kein Simulant bin.» Er zieht sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, verschliesst sich gegenüber der Familie.

Steffen Stoewer ist Facharzt für Psychiatrie und kennt den Fall Nikolic nicht. Er sagt: «Wer als Simulant abgestempelt wird, obwohl er krank ist, gerät in einen Zustand von grosser Hoffnungslosigkeit.»

Was vergraben war, wird aufgewirbelt

Anfang 2023 wird Nikolic zum dritten Mal begutachtet – internistisch, orthopädisch, psychiatrisch und neuropsychologisch. Den Auftrag bekommt – per Los – die Gutachterfirma Pmeda. Der orthopädische Gutachter bittet Nikolic, eine Treppe hochzusteigen, er kann das nicht. In den Akten wird das nicht erwähnt. Für den Gutachter sind die Schmerzen nicht erklärbar – ein Widerspruch zu den Vorakten, der nicht aufgelöst wird.

Auch der Psychiater setzt sich kaum mit den Vorakten auseinander. Ob er Kontakt mit dem Vater habe? Die Frage trifft Nikolic bis ins Mark und wirbelt alles auf, was doch vergraben war. Er bricht zusammen und bekommt einen Weinkrampf. Eingang in die Akten findet auch dieser Vorfall nicht. Wegen der Retraumatisierung wird er sich im Nachgang behandeln lassen müssen. Pmeda hingegen diagnostiziert weder eine Depression noch ein anderes psychisches Leiden.

Als Simulant abgestempelt

Der grösste Fehler passiert beim Neuropsychologen. Dessen Namen erfährt Nikolic vorab. So will es das Gesetz. Damit man den zufällig ausgewählten Gutachter ablehnen kann, wenn man triftige Gründe hat. Am Termin erscheint ein anderer Gutachter. Nikolic hat ein schlechtes Gefühl. Aber weil er zwei Jahre gewartet hat, lässt er den Termin über sich ergehen. Die IV Zürich schlägt danach vor, dass er die Untersuchung beim «richtigen» Gutachter nachholen kann. Doch er hat das Vertrauen verloren.

Für Pmeda ist Nikolic ein Simulant und zu 100 Prozent arbeitsfähig. Im März 2024 kommt der negative Vorbescheid der IV Zürich. Man stützt vollständig auf das Gutachten ab. Es sei nachvollziehbar und schlüssig. Nikolic erhebt Einsprache.

«Kein Sieg, sondern eine zusätzliche Belastung»

Als der Beobachter die IV um Stellungnahme bittet, äussert sie sich nicht. Kurz darauf zieht sie den negativen Vorbescheid zurück. Nikolic kann sich von einer anderen Stelle neu begutachten lassen. Doch ob er die Kraft dafür hat, ist fraglich. «Für mich ist die Aufhebung des Vorbescheids kein Sieg, sondern eine zusätzliche Belastung.»

«Die lange Dauer des Verfahrens und die Unsicherheit, ob die Beschwerden und Symptome anerkannt werden, führt häufig zu Ohnmachtsgefühlen», sagt Psychiater Stoewer.

Das ist auch bei Arsenije Nikolic so. Er hat Angst, wieder zu Mutter und Vater befragt zu werden. Und er ist einfach müde. «Warum muss ich immer etwas beweisen, obwohl die Pmeda einen Fehler gemacht hat? Und warum wurde der Fehler sogar von der IV gedeckt?» Er weiss noch nicht, ob er sich das alles noch mal antun will.

*Name geändert

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