«Es wird mehr Arbeitsplätze geben, nicht weniger»
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Carmen Walker-Späh:«Es wird mehr Arbeitsplätze geben, nicht weniger»

Studie zeigt Strukturwandel am Arbeitsmarkt
Uni-Abgänger sind stärker betroffen als Hilfskräfte

Dass künstliche Intelligenz unsere Jobs ersetzt, scheint weit weg. Eine Studie untersucht nun aber in der Deutschschweiz, wie sich der Arbeitsmarkt im vergangenen Jahrzehnt durch Automatisierung, Digitalisierung und KI verändert hat – und wie es weitergeht.
Publiziert: 09.05.2023 um 09:00 Uhr
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Aktualisiert: 09.05.2023 um 11:41 Uhr
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Sarah FrattaroliStv. Wirtschaftschefin

«ChatGPT, ersetzt künstliche Intelligenz (KI) unsere Jobs?» Die Antwort des derzeit wohl gehyptesten Chatbots der Welt ist diplomatisch: «Insgesamt wird KI einige Jobs ersetzen, aber auch neue Arbeitsplätze schaffen.»

Das passiert nicht nur im weit entfernten Silicon Valley – sondern auch in der Ostschweiz, im Glarnerland oder im Kanton Aargau. Die Amosa (Arbeitsmarktbeobachtung Ostschweiz, Aargau, Zug und Zürich) hat eine Studie zum Thema durchgeführt. «Jeder von uns ist von diesem Wandel betroffen», betonte die Zürcher Volkswirtschaftsdirektorin Carmen Walker-Späh (65) anlässlich der Präsentation der Studie.

Lowtech-Industrie verliert

Im Zuge der Umwälzungen durch Automatisierung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz haben sich in den vergangenen zehn Jahren in den zehn untersuchten Kantonen – sie repräsentieren immerhin die Hälfte der Deutschschweiz – die Kräfteverhältnisse am Arbeitsmarkt deutlich verschoben. Der Dienstleistungssektor legte, gemessen an der Anzahl Jobs, seit 2010 um 4 Prozent zu. Der Industriesektor hingegen stellt heute 3 Prozent weniger Jobs am gesamten Arbeitsmarkt.

In der Industrie sind die Veränderungen durch KI, Automatisierung und Digitalisierung gross. Die Hightech-Industrie – im Bild ein Nestlé-Labor bei Lausanne – profitiert.
Foto: AFP
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Betroffen ist besonders die Lowtech-Industrie, darunter die Bekleidungs- oder Papierindustrie, wo die Anzahl Stellen zurückgeht. Jeder fünfte Job in diesem Bereich ist in den letzten 10 Jahren verschwunden. Die Hightech-Industrie, darunter die Pharmaindustrie, ist hingegen im Aufwind. Hier sind innert zehn Jahren 34 Prozent mehr Stellen entstanden.

«Wandel im Arbeitsmarkt kann einige Personen überfordern»
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Leiterin Amosa Katharina Degen:«Wandel im Arbeitsmarkt kann einige Personen überfordern»

Neben Jobs im Lowtech-Industriesektor betrachtet die Studie Berufe im Detailhandel, im Marketing sowie im Büro und Sekretariat im Detail, weil es auch dort zu besonders vielen Umwälzungen kommt. Sie alle sind geprägt von einem hohen Routineanteil (etwa Büro- und Sekretariatsarbeiten) oder einem hohen Potenzial für Umwälzungen durch KI (etwa Marketing).

Über sämtliche Branchen hinweg gab es im Untersuchungszeitraum in den betroffenen Kantonen ein Beschäftigungswachstum um 33 respektive 28 Prozent bei analytischen und interaktiven Nicht-Routine-Tätigkeiten. «Das entspricht fast 200'000 Stellen», rechnet Walker-Späh vor. «Es handelt sich um Jobs, in denen geführt, interpretiert, analysiert, entwickelt, beraten, unterrichtet oder unterhalten wird.»

Immer höhere Bildungsabschlüsse

Die Anforderungen an die Arbeitnehmenden wachsen Jahr für Jahr. Mehr als jede zweite Person hat mittlerweile einen tertiären Bildungsabschluss (Höhere Fachschule, Universität oder Fachhochschule) – 12 Prozent mehr als im Jahr 2010.

Der Strukturwandel im Arbeitsmarkt sei nicht neu, heisst es in der Studie. Aber das Tempo des Wandels habe sich verstärkt. Angetrieben auch durch die Corona-Pandemie: Spätestens seither sind virtuelle Meetings genauso an der Tagesordnung wie physische. «Diese Transformation ist längst nicht abgeschlossen», so Walker-Späh. Hinzu kommt, dass die Studie den Zeitraum zwischen 2010 und 2020 betrachtet. Der Einfluss von KI nahm erst ab 2020 so richtig Fahrt auf.

Junge Berufsleute besonders betroffen

Nicht nur die Jobs ungelernter Hilfskräfte stehen auf der Kippe. Durch den aktuellen Strukturwandel sind sogar eher Arbeitnehmende mit einem mittleren Bildungsniveau und Hochqualifizierte betroffen. Bei Büro- und Sekretariatsarbeiten oder in Marketing und Vertrieb sind die Einsatzmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz gross. Die Jobs von Reinigungskräften, Hilfsarbeitern auf dem Bau oder Gastro-Mitarbeitenden sind durch KI und Automatisierung hingegen schwieriger zu ersetzen.

Auch für Büro-Angestellte oder Marketing-Fachleute sei ein Wegfall ihrer Tätigkeiten durch KI derzeit «unwahrscheinlich», heisst es in der Studie. Aber sie müssten sich auf grosse Veränderungen einstellen. Und: «Ein hohes Bildungsniveau schützt nicht vor Kompetenzlücken», so die Studienautoren. So braucht es in vielen Jobs etwa immer mehr Fähigkeiten in der Datenanalyse sowie Programmierkenntnisse – Kompetenzen, die auch Uni-Abgänger nicht von Haus aus mitbringen.

Frauen und junge Berufsleute zwischen 15 und 24 sind von den Umwälzungen im Arbeitsmarkt überdurchschnittlich stark betroffen, weil sie häufiger in Berufsfeldern tätig sind, die im Fokus stehen.

«Geringqualifizierte dürfen nicht zu den Verlierern des Wandels werden», betont Walker-Späh. «Wir müssen sie befähigen, digital fitter zu werden. Und ihnen Lust darauf machen, auf der Digitalisierungswelle zu surfen.»

Quereinsteiger gefragt

Die gute Nachricht: Das durchlässige Schweizer Bildungssystem sorgt dafür, dass die Leute durch den Strukturwandel im Arbeitsmarkt nicht einfach arbeitslos werden – sondern sich weiterbilden und den Job wechseln könnten. Sie stünden am Ende mit einem Job da, bei dem es weniger um Routine und mehr um kognitive Tätigkeiten geht. Kehrseite der Medaille: Die Jobs würden durch den Wandel zwar bereichert, das könne bei den Arbeitnehmenden aber auch zu Stress und Überforderung führen, so die Studienautoren.

Die Studie fordert, dass Quereinstiege gefördert werden. Der Fachkräftemangel befeuert diesen Trend, weil Unternehmen darauf angewiesen sind, dass die verfügbaren Arbeitskräfte auf ihre offenen Stellen passen. Damit das gelingt, sei es wichtig, in Zukunft weniger auf formelle Abschlüsse zu achten, weniger in althergebrachten Berufsfeldern zu denken, sondern sich auf die für einen Job wirklich notwendigen Kompetenzen zu fokussieren.

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