Werner Vontobel ordnet ein
«Wertschöpfungsketten – je globaler, desto schlimmer»

Zu den vielen Nachteilen der globalen Wertschöpfungsketten gehört auch die extrem ungleiche Einkommensverteilung, schreibt Wirtschaftsexperte Werner Vontobel.
Publiziert: 18.11.2023 um 12:05 Uhr
Werner Vontobel

Unsere Urahnen hatten sehr kurze Wertschöpfungsketten. Dieselben Sippenmitglieder, die auf der Jagd ein Mammut erlegt haben, waren auch für die Herstellung von Pfeil, Bogen und Pfeilgift zuständig. Sie haben das Mammut transportiert, ausgeweidet, das Fleisch gebraten und serviert und sie sassen auch zu Tisch beziehungsweise am Lagerfeuer. Sie brauchten kein Geld, keine Werbeprospekte, keine Stellenvermittler, Lebensmittelinspekteure, Verkaufslokale. Und die Beute wurde einigermassen gerecht geteilt. Mehr als sich satt essen konnte niemand und bei der nächsten Jagd mussten alle fit sein.

Inzwischen haben wir das Geld erfunden, die Arbeitsteilung vorangetrieben und wir wurden wesentlich produktiver. Doch dieser Fortschritt hat auch ein paar Schattenseiten: Die Arbeit wurde für viele eintönig und oft auch eine einsame Angelegenheit – verglichen mit dem Erlebnis einer gemeinsamen Jagd mit anschliessendem Lagerfeuer. Zudem wurden die Arbeitsabläufe viel komplexer. Der Löwenanteil der Arbeit dient heute bloss noch der Bewältigung der mit dem Markt verbundenen Komplexität. Vor allem aber verteilt die Marktwirtschaft ihre Beute sehr ungleichmässig.

Zugang zu globalen Kunden ist lukrativ

Dieses Problem hat sich mit den globalen Wertschöpfungsketten noch wesentlich verschärft. Je globaler diese sind, desto mehr Werte können an wenigen strategischen Punkten abgeschöpft werden. Beispiele sind die Finanzdienstleistungen, Verwaltung, Forschung und Werbung. Wer den Zugang zur globalen Kundschaft beherrscht, sahnt ebenfalls ab. Booking.com etwa nimmt 15 bis 20 Prozent des Buchungspreises und beansprucht damit mit einem kleinen Bruchteil des Arbeitseinsatzes rund die Hälfte der Wertschöpfung.

Werner Vontobel ordnet für Blick regelmässig wirtschaftspolitische Themen ein.
Foto: Paul Seewer
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Ein krasses Beispiel für konzentrierte Wertabschöpfung ist der Schweizer Schuhhersteller On. Er produziert in Vietnam, wo der Mindestlohn bei etwa einem Dollar pro Stunde liegt. Ganz oben haben sich die fünf Gründer und Topmanager 2021 je rund 16 Millionen Franken auszahlen lassen. Zudem haben sie beim Börsengang durch den Verkauf von Aktien weitere 135 Millionen Dollar verdient. 2023 haben sie bisher noch einmal rund 50 Millionen Dollar kassiert. 

Bodenbesitzer werden zu Globalisierungsgewinnern

Dafür müssten 25'000 Textilarbeiterinnen ein Jahr lang hart arbeiten. Dazu kommt, dass diese Mehrwerte überwiegend an den globalen Hotspots abfallen – in Zug, Zürich, Genf, München, New York etc. Mit der Folge, dass dort die Mieten und die Immobilienpreise explodieren, womit die dortigen Bodenbesitzer ebenfalls zu Globalisierungsgewinnern werden. Sie knöpfen aber nicht nur den Globalisierungsgewinnern viel Geld ab, sondern schröpfen auch die Normalverdiener und Mieter an den Hotspots. Insgesamt summiert sich diese Umverteilung allein in der Schweiz auf einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag – jährlich wohlverstanden.

Das ist übel, aber es kommt noch übler: Seit etlichen Jahrzehnten gilt es als ausgemachte Sache, dass sich Randgebiete nur dadurch entwickeln können, dass sie sich in die globalen Wertschöpfungsketten einklinken. Doch weil die fetten Glieder bereits besetzt sind, müssen sie mit dem mageren Rest vorliebnehmen. Was dabei für Vietnam herausspringt, haben wir im Falle der On-Schuhe gesehen. Doch auch bei Hightech-Produkten sieht es nicht besser aus. Weil in China die Lohnkosten gestiegen sind, stellt Foxconn im Auftrag von Apple das iPhone neuerdings auch in Vietnam her – womit für dieses Land magere rund 2 Prozent der ganzen Wertschöpfung abfallen.

Als sich die Schweiz zum Industrieland gemausert hat, waren die Wertschöpfungsketten noch nicht global. Sonst würden auch wir noch immer am Hungertuch nagen.

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