Wirtschaftsexperte Werner Vontobel ordnet ein
Warum die Denkfabrik Avenir Suisse die Preise hochtreibt

Mieten, Krankenkassen, Strom – alles wird teurer. Doch daran sind nicht allein die steigenden Kosten schuld, sagt Werner Vontobel.
Publiziert: 11.09.2023 um 20:10 Uhr
Werner Vontobel

Nach dem Lehrbuch der Ökonomie werden die Preise durch die Kosten bestimmt. Wer etwas herstellt, muss dafür Material kaufen, Löhne zahlen und die entsprechenden Kosten auf die Kunden abwälzen. Der billigste Produzent gewinnt, die teuren Anbieter werden von der Konkurrenz verdrängt. So funktioniert es zum Teil auch in der Realität. Der Strompreis steigt, weil die Elektrizitätswerke das Gas, die Kohle oder das Erdöl teurer einkaufen müssen. Der Kaffee wird teuer, weil die Beizer den Angestellten einen Teuerungsausgleich bezahlen müssen.

Doch da ist auch noch ein anderer Mechanismus im Spiel. Gewisse Preise steigen, unabhängig von den effektiven Kosten, deshalb, weil die Produzenten mehr aus den Konsumenten herausholen können. Das gilt etwa für den wichtigsten Ausgabeposten der meisten Haushalte. «Die Mieten sind hoch, weil hierzulande hohe Einkommen erzielt werden.» So fasst der unternehmerfreundliche Thinktank Avenir Suisse das Ergebnis seiner neuesten Studie zum Wohnungsmarkt «Mieten und Mythen» zusammen.

In der Tat haben die Preise für Wohnraum mit den effektiven (Bau-)Kosten immer weniger zu tun. So wird etwa im Zürcher Vorort Adliswil eine 92 Quadratmeter grosse 3,5-Zimmer-Wohnung für 1,555 Millionen angeboten und verkauft. Im Jura zahlt man dafür noch nicht einmal einen Drittel obwohl die Baukosten in etwa gleich sind. Die Mieten sind hoch, weil es in Zürich viele reiche Leute gibt. Und weil die Schweiz mit ihrer Steuerpolitik viele zahlungskräftige Steuerzahler anlockt. Die Avenir Suisse spielt dabei eine treibende Rolle. Hier etwa macht sie konkrete Vorschläge, wie die Schweiz die von der OECD verlangte minimale Gewinnsteuer von 15 Prozent sogar unter Null senken – und noch mehr Firmensitze in die Schweiz bringen kann.

Wirtschaftsexperte Werner Vontobel ordnet für Blick Entwicklungen in der Schweiz ein.
Foto: Paul Seewer
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Auch im Gesundheitswesen so

Derselbe Mechanismus – hohe Kaufkraft verteuert die Preise – spielt nicht nur bei den Immobilien, sondern auch im Gesundheitswesen. Und auch hier liefert die Avenir Suisse Schützenhilfe. In einer Studie mit dem Titel «Die Schweiz muss für die Pharmaindustrie attraktiv sein», setzt sie sich dafür ein, dass neue teure Medikamente schneller zugelassen und von den Krankenkassen bezahlt werden. Zu welchem Preis? Dazu heisst es in der Studie: «Ein weiterer Vorschlag von Avenir Suisse bestünde darin, die Preisfestsetzung für Arzneimittel auf der Basis ihres objektiv gemessenen Mehrwerts zu ermöglichen.»

Das heisst: Nicht die Kosten sind für den Preis massgebend, sondern der «Mehrwert». Konkret: Wenn die – vom Hersteller bezahlte – Studie zeigt, dass das neue Medikament den Spitalaufenthalt um sieben Tage (zu 400 Franken) verkürzt, dann beläuft sich der Mehrwert auf 2800 Franken. Wenn das Leben um zwei Jahre verlängert wird, beträgt der Mehrwert zwei Lebensjahre, die im Falle der USA mit je etwa 100'000 Dollar beziffert werden. Von diesem Mehrwert beansprucht der Hersteller die Hälfte. Bei häufig verschriebenen Medikamenten wird ferner darauf Rücksicht genommen, dass die Krankenkassen die Kosten noch tragen können.

Preisverhandlungen noch nicht abgeschlossen

Dies wird zurzeit gerade getestet. Die Pharmafirma Nordisk und die von ihr mitfinanzierte Allianz Adipositas drängen darauf, dass ihre von der Swissmedic bereits zugelassene Fett-weg-Spritze Wegovy von den Krankenkassen bezahlt wird. Sie kostet in Deutschland aktuell rund 300 Euro pro Monat und muss – um den Jo-Jo-Effekt zu vermeiden – bis ans Lebensende genommen werden. Gemäss Allianz Adipositas gibt es in der Schweiz mehr als 400'000 Personen mit schwerem Übergewicht, was für Nordisk einen Markt von rund 1,5 Milliarden Franken verspricht – und für die Krankenkassen einen weiteren Kostenschub.

Noch sind die entsprechenden Preisverhandlungen nicht abgeschlossen. Nordisk und alle anderen Anbieter solcher Medikamente können sich dabei auf die «Expertise» der Avenir Suisse stützen. Danach «darf der Preis für ein Medikament, das langwierige Behandlungen erspart, einerseits den Wert dieser Einsparungen spiegeln, soll sich anderseits am finanziellen ‹Wert› geretteter Lebensjahre bei guter Gesundheit orientieren.» Die Experten der Avenir Suisse denken offenbar gar nicht daran, dass sich in einer Marktwirtschaft der Preis eigentlich an den Kosten orientieren sollte, und nicht am (finanziellen) Nutzen einer reichen Oberschicht.

Die Avenir Suisse vertritt die Interessen der Wirtschaft. Ihre Argumente berücksichtigen die vor den Multis geschaffenen Fakten. Die Pharma-Industrie kann in der Tat mit der Verlagerung von Jobs drohen, wenn die Schweiz für sie nicht mehr attraktiv ist. Deswegen bräuchten wir auch Thinktanks, die auch grundsätzliche Fragen stellen: Könnten wir den Pharma- oder den Wohnungsmarkt nicht auch so organisieren, dass nicht der Nutzen (der Kaufkräftigen), sondern die (von den Löhnen der Normalverdiener abhängigen) Kosten den Preis bestimmen? Und nicht zuletzt stellt sich auch die Frage, ob wir unsere Zivilisationskrankheiten nicht auch anders bekämpfen können als mit immer teureren und keineswegs nebenwirkungsfreien Medikamenten.


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