Blick besucht ausgeschaffte Familie in Sri Lanka
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«Schweiz ist unsere Heimat»:Blick besucht ausgeschaffte Familie in Sri Lanka

Ausgeschafft nach Sri Lanka
Als sich Ashvika für die Schule parat machte, kam die Polizei

Im November 2023 mussten Nesakumar und Thanusika mit ihren Kindern die Schweiz verlassen. Blick hat die Familie in Sri Lanka besucht. Protokoll eines geplatzten Traums.
Publiziert: 22.07.2024 um 17:09 Uhr
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Aktualisiert: 23.07.2024 um 10:31 Uhr
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Benjamin FischReporter/Moderator Blick

Thanusika (32) legt Blumen unter das Bild der elefantenköpfigen Indu-Gottheit Ganesha. Sie schliesst die Augen und betet zusammen mit ihrer Familie für eine bessere Zukunft. Nesakumar (40), ihr Ehemann, sagt: «Ganesha weiss bereits, was wir wollen. Wir wollen zurück in die Schweiz.»

Die Schweiz jedoch ist weit weg. Nesakumar und Thanusika wurden mit ihren Kindern letzten November nach Sri Lanka ausgeschafft. Zuvor lebte die Flüchtlingsfamilie acht Jahre im Kanton Bern und hoffte, eines Tages Asyl zu bekommen. Vergebens.

Die Ausschaffung

Es ist der 21. November 2023. Um 6.30 Uhr fährt die Polizei ohne Vorankündigung vor dem Rückkehrzentrum Enggistein im Kanton Bern vor und nimmt die Familie in Gewahrsam. Tochter Ashvika (7) macht sich gerade parat für die Schule, als die Beamten ins Zimmer der Familie kommen. Ein Schock. Sie müssen ihre Sachen packen. Die Beamten bringen die Familie auf den Polizeiposten in Worb und dann zum Flughafen Zürich. Nesakumar versucht in der Verzweiflung, die Ausschaffung zu stoppen, indem er seinen Kopf so lang gegen ein Waschbecken knallt, bis er ohnmächtig wird. Das hindert die Uniformierten nicht daran, die Ausschaffung zu vollziehen. Die Anwältin der Familie reicht in letzter Sekunde Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ein. Ohne Wirkung.

Ashvika, Thanusika, Aathvika, Nesakumar und Aarusan wurden nach acht Jahren in der Schweiz nach Sri Lanka ausgeschafft.
Foto: Benjamin Fisch
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Ashvika (7) wollte zur Schule – dann kam die Polizei
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Protokoll einer Ausschaffung:Ashvika (7) wollte zur Schule – dann kam die Polizei

Lisbeth Zogg Hohn (68), eine Unterstützerin der Familie, war bei der Ausschaffung dabei. «Es war ein sehr trauriger Moment», sagt sie. «Auch für die Angestellten der Unterkunft und die Polizisten war es emotional.» Diese Ausschaffung sei «unlogisch» und «widersinnig». Die Kinder würden in eine fremde Heimat gebracht. Ashvika und Aarusan wurden in der Schweiz geboren. Ashvika ging in Worb in die 1. Klasse. Dazu kommt, dass Thanusika im sechsten Monat schwanger war, Nesakumar psychisch krank. Das Leben in der Illegalität, ohne Perspektive und mit dauernder Angst machte ihn depressiv. Er hatte zudem eine diagnostizierte Posttraumatische Belastungsstörung. Die Beschwerdefrist für ihr abgelehntes Wiedererwägungsgesuch war am Tag der Ausschaffung noch offen. Die Ausschaffung war gemäss geltendem Gesetz trotzdem erlaubt.

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«Auch für die Angestellten der Unterkunft und die Polizisten waren es emotional.»
Lisbeth Zogg Hohn, Unterstützerin der Familie
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Noch am selben Abend startete der Sonderflug mit der Familie an Bord. Es war ein Charterflug der tschechischen Billigfluggesellschaft Smartwings, im Auftrag des Staatssekretariats für Migration (SEM). Im Flugzeug sass eine weitere Familie aus dem Kanton Bern mit zwei Kindern, die in der Schweiz zur Welt kamen. Das jüngste Kind war nur ein paar Monate alt. Laut Angaben der Familie waren auch rund zehn Einzelpersonen im Flugzeug, begleitet von einem grossen Polizeiaufgebot.

Über 24 Stunden nach Start der Ausschaffung landete die Familie in Colombo, der Hauptstadt Sri Lankas. Dem Land, in dem sie nie mehr sein wollten.

Gemäss Zahlen des Staatssekretariats für Migration (SEM) wurden im vergangenen Jahr 61 Personen nach Sri Lanka zurückgeführt. Wie viele Personen mit einem Sonderflug ausgeschafft wurden, weist das SEM nicht aus. Eine Ausweisung per Sonderflug ist die härteste Zwangsmassnahme, die Schweizer Behörden gegenüber abgewiesenen Asylsuchenden ergreifen.

Das neue Leben in der alten Heimat

Sechs Monate nach der Ausschaffung hat sich Thanusika noch immer nicht vom Schock erholt. «Wir haben immer noch nicht realisiert, dass wir zurück sind», erzählt Thanusika bei einem Rundgang durchs Haus ihrer Eltern, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Auch die beiden jüngeren Brüder von Thanusika wohnen noch hier. Hätten die Eltern sie nicht bei sich aufgenommen, wäre die Familie auf der Strasse gelandet. Das Haus der Eltern befindet sich in der Nähe der Stadt Vavuniya im Norden Sri Lankas. Im Garten wachsen Bananen und Mangobäume. Einige Hühner gackern, zwei Streunerhunde haben sich bei ihnen eingerichtet. Im Haus hat es einen Gemeinschaftsraum, eine Küche und drei Zimmer. Thanusika zeigt ihr Zimmer, das sie mit Nesakumar und ihren Kindern teilt. In der Mitte steht ein Feldbett, an der Wand ein kleiner Holzschrank und ein Tisch. Thanusika rollt eine Strohmatte aus. «Wir schlafen alle zusammen am Boden», erklärt sie.

Seit ihrer Rückkehr sind Nesakumar und Thanusika zum dritten Mal Eltern geworden. Ihre jüngste Tochter kam Ende Februar zur Welt. «Sie ist zum Glück gesund», sagt Thanusika. Sie hört auf den Namen Aathvika. Das bedeutet auf Tamilisch «gutes Leben». Am Boden spielen ihre älteren Geschwister. Ashvika bastelt gerade aus Karton ein Kleid für ihre Barbiepuppe, während Aarusan vor allem Spass daran hat, seine Schwester zu nerven.

«Die Lehrer schlagen uns, wenn wir nicht gehorchen»

Der siebenjährigen Ashvika fällt der Neuanfang schwer. Sie vermisst ihre Freundinnen aus der Schweiz und hat Mühe in der Schule. Sie geht in die 3. Klasse. Ashvika hat soeben ihre Schulsachen fertig gepackt und ihre Uniform angezogen, ein weisses Hemd und eine violette Krawatte. In der Schule angekommen, sticht als Erstes der Spielplatz ins Auge. Die Wippe wird vom hohen Gras verschlungen. «Hier spielen ganz selten Kinder», sagt Thanusika. Die Hitze sei das Problem. Im Schulzimmer hat jedes Kind ein eigenes Holzpult. Vorne hängt die traditionelle Wandtafel. Auf die Frage, ob sie gerne zur Schule geht, kommt vom sonst sehr schüchternen Mädchen eine klare Antwort: «Nein.» In Sri Lanka gehört Züchtigung teilweise noch zum Schulalltag. Der dünne Holzstock liegt auf dem Lehrerpult bereit. «Die Lehrer schlagen uns, wenn wir nicht gehorchen», sagt Ashvika. Das zweite Problem: die Sprache. Ashvika versteht tamilisch, kann aber nicht schreiben und lesen. Während die anderen Kinder eine Prüfung absolvieren, ist Ashvika damit beschäftigt, das ABC zu lernen. Die tamilische Schrift hat 247 Zeichen. Freunde hat sie bis jetzt auch noch keine gefunden. «Das macht mich traurig», sagt sie mit bedrückter Miene.

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«Die Lehrer schlagen uns, wenn wir nicht gehorchen.»
Ashvika
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Das Leben der Familie ist geprägt von Sorgen. Nesakumar sitzt im Garten im Schatten eines Lansibaums. Er hatte vor kurzem einen schweren Töffunfall und wurde im Spital behandelt. Im Gesicht musste er eine grosse Wunde nähen lassen. Die Schürfwunden an Armen und Beinen sind auch einen Monat nach dem Unfall nicht verheilt. Das Geld für die Operation fehlte. Deshalb musste er die Goldkette seiner Frau verkaufen. Weil er nach dem Unfall auf Hilfe angewiesen ist, wohnt er im Moment bei seiner Familie. Das sei jedoch eine Ausnahme. Auch wenn bis jetzt nichts passierte, habe er Angst, dass er politisch verfolgt wird. Er arbeitet nicht. «Zuerst muss ich mein Überleben sichern, erst dann kann ich mich um meine Familie kümmern», sagt Nesakumar. Um seine Angst zu verstehen, muss man seine Geschichte kennen.

Nesakumars Vergangenheit

Nesakumar kam 1983 im mehrheitlich tamilischen Teil der Insel auf die Welt. In jener Zeit begann in Sri Lanka ein jahrzehntelanger Bürgerkrieg zwischen Singhalesen und Tamilen. Während des Kriegs kämpften tamilische Separatisten, vor allem der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE), besser bekannt als Tamil Tigers, um Unabhängigkeit. 2009 endete der Bürgerkrieg nach über 25 Jahren. Die singhalesische Regierung gewann den Krieg und unternimmt seither viel, um einen erneuten Ausbau der LTTE zu verhindern. Im Asylverfahren schilderte Nesakumar seine Geschichte, die in den Dokumenten festgehalten ist.

Nesakumars Vater sei 1988 demnach von der sri-lankischen Regierung sowie weitere Verwandte als Tamil-Tigers-Unterstützer umgebracht worden. Daraufhin seien viele seiner Angehörigen geflüchtet. Nur er und seine Mutter seien in Sri Lanka geblieben und aus Angst nach Colombo gezogen. Nesakumar habe Informatik studiert, ein eigenes Institut gegründet und Studenten ausgebildet. Nach dem Ende des Bürgerkriegs hätte ihn aber die Vergangenheit eingeholt. Er sei entführt und gefoltert worden. Die Entführer seien der Meinung gewesen, dass Nesakumar einen Wiederaufbau der Tamil Tigers unterstütze. Nesakumar bestreitet das. Um freizukommen, habe er Geld bezahlen müssen. Daraufhin habe er sich entschlossen, zu flüchten. Zusammen mit seiner Frau Thanusika, die er ein Jahr zuvor geheiratet hatte, reiste via Dubai und Italien illegal in die Schweiz ein und stellte ein Asylgesuch. Die Darstellungen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

«Regulär illegal»

In der Schweiz mussten Nesakumar und Thanusika drei Jahre auf ihren Asylentscheid warten. Sie wohnten in dieser Zeit in unterschiedlichen Asylzentren im Kanton Bern. 2018 bekamen sie den negativen Asylentscheid. Das SEM begründete den Entscheid folgendermassen: Die Erzählungen von Nesakumar enthielten «Ungereimtheiten und Widersprüche» und seien «unglaubhaft». Das SEM forderte sie auf, die Schweiz zu verlassen. Eine freiwillige Rückkehr war jedoch nie eine Option. Deshalb lebten sie weitere fünf Jahre illegal in der Schweiz.

Das Rückkehrzentrum war ihr Zuhause
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Rückkehrzentrum war ihr Daheim:Hier lebte Familie Nesakumar in der Schweiz

Personen, die nicht freiwillig in ihr Ursprungsland zurückkehren, nicht untertauchen und nicht ausgeschafft werden, leben in der Schweiz von der sogenannten Nothilfe. Der Staat ist verpflichtet, diesen Menschen ein Minimum an Nahrung, Kleidern und Unterkunft zu geben. Auch die Kosten der Krankenkasse übernimmt der Staat. Arbeiten dürfen sie nicht. Eine Integration in die Gesellschaft soll verhindert werden. Das gelang bei der Familie Nesakumar nur bedingt. Es entstanden viele Freundschaften mit der lokalen Bevölkerung. Nesakumar und Thanusika besuchten den Deutschunterricht. Sie spricht heute noch gut Deutsch. Zuletzt lebte die Familie im Rückkehrzentrum Enggistein.

«Ich würde lieber sterben, als so zu leben»

Nesakumar sitzt im Garten seiner Schwiegereltern. Er sieht sich als Versager. Er wurde bereits in der Schweiz wegen einer Depression behandelt. Jetzt habe sich alles noch verschlimmert. «Ich würde lieber sterben. Aber ich kann meine Familie nicht im Stich lassen», sagt er. Er macht der Schweiz Vorwürfe: «Diese Ausschaffung ist unmenschlich.»

Thanusika versucht stark zu sein, doch auch sie kommt an ihre Grenzen. Zum Glück unterstützen die Eltern und Brüder Thanusikas die Familie finanziell und emotional. Unterstützung kommt auch aus der Schweiz. Freunde schicken regelmässig Geld. Auch Post bekommen sie. Die Kinder haben gerade Farbstifte bekommen. Eine langjährige Freundin hat den Eltern einen Brief geschrieben. Thanusika hat Ashvika auf dem Schoss und liest den Brief vor: «Ich hoffe, dass ihr euch irgendeinmal zu Hause fühlt in Sri Lanka.» Sie bricht abrupt ab. Weiterlesen geht nach diesem Satz nicht mehr. Denn die Familie fühlt sich in Sri Lanka nicht zu Hause. Thanusika sagt: «Die Schweiz ist unser Zuhause.»

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