Behörden-Irrsinn!
Schweiz will junge Russin (17) ausschaffen

Obwohl die russische Regierung auch im eigenen Land Menschenrechte mit Füssen tritt, weist die Schweiz nach wie vor Asylsuchende nach Russland aus. Eine davon ist die Nachwuchspflegerin Milena*.
Publiziert: 23.10.2022 um 01:31 Uhr
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Aktualisiert: 23.10.2022 um 08:30 Uhr
Dana Liechti

Milena* muss gehen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden. Zurück in ein Land, aus dem sie vor fünf Jahren mit ihrer Mutter und ihrer Schwester geflohen ist und dessen Regierung gerade einen blutigen Krieg gegen die Ukraine führt: Russland.

Milena ist 17 und hat im Sommer in Ittigen BE ihre Lehre als Assistentin Pflege und Soziales im Pflegeheim Senevita Aespliz begonnen. Zuvor absolvierte sie dort ein einjähriges Praktikum – mit Erfolg. Die junge Frau arbeitet gerne. Sie mag ältere Menschen. Und ihre Mitarbeiterinnen. Sie hat Freundinnen gefunden, fühlt sich in Bern heimisch. Milena spricht gut Deutsch. Auch Schweizerdeutsch. Trotzdem müssen sie, ihre Schwester und ihre Mutter das Land verlassen. Sämtliche Asylanträge wurden abgelehnt. Die Familie wehrte sich. Doch am 20. September wurde das letzte Wort gesprochen: Auch das Bundesverwaltungsgericht weist sie aus der Schweiz weg. Nur einen Tag später ruft Putin in Russland zur Mobilmachung auf.

Seit klar ist, dass sie nicht hier bleiben darf, haben sich Milenas psychische Probleme verschlimmert. Sie leidet unter Schlafstörungen und wie ihre Mutter und Schwester an einer posttraumatischen Belastungsstörung – aufgrund der Ereignisse, die sich vor ihrer Flucht in Russland abgespielt haben. Der Vater der Mädchen ist ein regierungskritischer Aktivist. Immer wieder habe sie deswegen Anrufe von Männern bekommen, die ihr drohten, erzählt Milenas Mutter Vera* (54). Einmal sei sie tätlich angegriffen worden; zwei Männer packten sie am Hals. «Sie sagten, sie sehen jeden unserer Schritte, und wenn der Vater meiner Kinder keine Ruhe gebe, werde es schlecht ausgehen für meine Töchter und mich.»

Milena* (links) und ihre Mutter Vera* müssen die Schweiz verlassen. (Namen geändert)
Foto: Zamir Loshi
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Vergewaltigung nicht «genügend intensiv»

Obwohl sie Anzeige erstattete, habe ihr die Polizei nicht geholfen. Fortan hielten sie und ihre Töchter sich fast nur noch in den eigenen vier Wänden auf. Doch dann widerfuhr Vera Entsetzliches: Mehrere Männer lauerten ihr bei einem U-Bahn-Ausgang auf, drängten sie in einen Wagen, verschleppten sie in einen Wald und vergewaltigten sie. «Sie sagten, dasselbe wird meinen Töchtern passieren», sagt Vera, das Gesicht nass von den Tränen.

Für Vera war klar: Sie müssen fliehen. Kurz darauf reisen sie und ihre Töchter in die Schweiz. Doch die spricht Vera den Flüchtlingsstatus ab. Im Urteil, das SonntagsBlick vorliegt, hält das Bundesverwaltungsgericht fest, die von Vera geschilderten Vorfälle erwiesen sich nicht als «genügend intensiv». Sie habe nichts darlegen können, das für eine asylrechtlich relevante Verfolgung spreche.

Dass sie selbst in Kriegszeiten kein Asyl bekommen, erschüttert Vera. Die aktuelle Situation beweise doch: «In Russland kann alles passieren.» Auch Milena ist verzweifelt. In Russland sehe sie für sich keine Zukunft. «Wie können sie uns dorthin zurückschicken, erst recht jetzt, wo Krieg ist? Ich habe grosse Angst.»

«Ich verstehe nicht, warum die Schweiz so etwas tut»

Das Bundesverwaltungsgericht indes hält die Rückkehr für zumutbar. Im Urteil, das SonntagsBlick vorliegt, hält es fest: «Die allgemeine Menschenrechtssituation in der Russischen Föderation, insbesondere in der Hauptstadt Moskau, lässt den Wegweisungsvollzug zum heutigen Zeitpunkt und auch unter Berücksichtigung des Krieges gegen die Ukraine nicht als unzulässig erscheinen.»

Zudem sei «auch unter Mitberücksichtigung der gesundheitlichen Aspekte nicht davon auszugehen, dass das Kindeswohl bei einer Rückkehr in die Russische Föderation gefährdet wäre». Dass Milena hier der Start ins Berufsleben geglückt ist, wird wiederum als Argument für die Wegweisung genutzt: Aus dem Lehrvertrag könne geschlossen werden, dass sie sich schnell an neue Situationen gewöhne und darum «kaum Mühe mit ihrer Reintegration im Heimatland» haben werde. Ein Schlag in Milenas Gesicht.

Am Mittwoch musste sie die Auflösung ihres Lehrvertrags unterzeichnen. «Ich verstehe nicht, warum die Schweiz so etwas tut. Ich habe mir doch so Mühe gegeben», sagt sie. «Nun sollen wir zu Hause sitzen und warten, bis wir ins Asylheim und dann nach Russland zurückmüssen. Ich weine nur noch.»

Bei der Senevita AG ist man über Milenas Wegweisung betroffen. «Wir bedauern den Entscheid sehr», sagt Mediensprecherin Angela Scalese.

«Ich hatte das Glück, dass ich schnell rausgekommen bin»
2:04
Russe berichtet über Flucht:«Ich hatte das Glück, dass ich schnell rausgekommen bin»

SEM will nicht Stellung nehmen

Deutlichere Worte findet Rosa Keller. Die 94-Jährige wohnt im Pflegeheim Senevita Aespliz und hat einen guten Draht zu Milena. Sie sei entsetzt und wütend, sagt Keller. «Einen jungen Menschen, der das Leben vor sich hat, in so eine schlimme Situation zu schicken, ist unmenschlich.»

Milena sei zuverlässig und hilfsbereit, «einfach ein liebes Kind», sagt Keller. «Jedes Mal, wenn sie ins Zimmer kommt, habe ich Freude.» Es sei ein unglaublicher Fehlentscheid, Menschen wegzuschicken, die in Berufe mit Personalmangel einsteigen wollen: «So etwas Unverständliches können nur totale Bürokraten machen!»

Was geschieht nun mit Milena? Das Staatssekretariat für Migration (SEM) weigert sich gegenüber SonntagsBlick, auf ihren Fall einzugehen. Das Amt erklärt lediglich das generelle Vorgehen: Russische Staatsbürger, die eine Wegweisung erhalten, bekämen eine Frist, um freiwillig auszureisen. Wer sie verstreichen lässt, werde via Istanbul oder Belgrad kontrolliert nach Russland zurückgeführt. Das heisst, die Polizei bringt die Betroffenen zum Flughafen, und sie reisen alleine zurück – oder werden von der Polizei auf dem Flug begleitet. Letztes Mittel wäre ein Sonderflug. Im laufenden Jahr haben bis Ende September 17 abgewiesene Asylsuchende mit russischer Staatsangehörigkeit die Schweiz verlassen. Laut SEM «alle freiwillig und unbegleitet».

Wie gross die Angst vor dem russischen Regime bei Milena und ihrer Familie ist, zeigt die Tatsache, dass sie sich in diesem Artikel nicht mit richtigem Namen und Gesicht zeigen wollen. Dabei hätte dies den Druck auf die Behörden erhöht, ihnen das Verbleiben in der Schweiz trotz allem zu gewähren. Zu gross aber ist die Sorge, dass der Schwester von Vera, die noch in Russland lebt, durch die Berichterstattung etwas zustossen könnte.

* Namen geändert

Hohe Hürden für Russen

Flüchtlinge aus Russland erhalten in der Schweiz keine besondere Behandlung. Den Schutzstatus S gibt es ohnehin nicht – doch selbst Kriegsdienstverweigerer können nicht automatisch damit rechnen, dass sie Asyl erhalten. Dafür müssen sie nachweisen, dass ihnen in Russland eine besonders harte Strafe droht. Das Problem ist aber sowieso, dass es die Menschen aus Russland ohne Visum gar nicht erst in den Schengen-Raum und damit in die Schweiz schaffen. So sind in den letzten Wochen zwar Hunderttausende Männer geflüchtet, vor allem aber nach Georgien und Kasachstan. In der Schweiz wurden im laufenden Jahr bislang 159 russische Asylgesuche gestellt. In 72 Fällen wurde entschieden, nur 14 Personen bekamen Asyl, vier eine vorläufige Aufnahme. Die anderen Gesuche sind noch pendent.

Flüchtlinge aus Russland erhalten in der Schweiz keine besondere Behandlung. Den Schutzstatus S gibt es ohnehin nicht – doch selbst Kriegsdienstverweigerer können nicht automatisch damit rechnen, dass sie Asyl erhalten. Dafür müssen sie nachweisen, dass ihnen in Russland eine besonders harte Strafe droht. Das Problem ist aber sowieso, dass es die Menschen aus Russland ohne Visum gar nicht erst in den Schengen-Raum und damit in die Schweiz schaffen. So sind in den letzten Wochen zwar Hunderttausende Männer geflüchtet, vor allem aber nach Georgien und Kasachstan. In der Schweiz wurden im laufenden Jahr bislang 159 russische Asylgesuche gestellt. In 72 Fällen wurde entschieden, nur 14 Personen bekamen Asyl, vier eine vorläufige Aufnahme. Die anderen Gesuche sind noch pendent.

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