Kein Grund zur Schadenfreude
Darum ist die Putin-Demütigung für Kiew so gefährlich

Die Unberechenbarkeit des Kreml-Herrschers ist nur einer von mehreren Gründen, weshalb der Ukraine-Krieg jetzt vollends eskalieren könnte. Eine Analyse.
Publiziert: 26.06.2023 um 17:41 Uhr
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Aktualisiert: 28.06.2023 um 08:09 Uhr
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Jewgeni Prigoschin (62) wird in die Geschichtsbücher eingehen als jener Mann, der Wladimir Putin (70) fast gestürzt hätte. Aber eben nur fast.

Ob all der Schadenfreude über Putins schwachen Moment aber darf man nicht vergessen: An der Brutalität der russischen Truppen hat sich nichts geändert. Im Gegenteil: Die russische Gefahr für die Ukraine und für Europa ist gar noch gewachsen – aus diesen fünf Gründen:

1) Zweiter Sturm auf Kiew

Die belarussische Stadt Mahiljou wird zur neuen Heimat für 8000 Wagner-Söldner, schreibt das russische Online-Portal Wjorstka. Prigoschin und Tausende seiner Kämpfer ziehen wohl also definitiv in Alexander Lukaschenkos (68) Reich um. Das sind schlechte Nachrichten für Kiew.

Jewgeni Prigoschin ist laut belarussischen Bloggern in der Hauptstadt Minsk angekommen.
Foto: DUKAS
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Die ukrainische Hauptstadt liegt gerade mal 130 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Schon den ersten Grossangriff auf die Millionenmetropole im Februar 2022 lancierten Putins Truppen aus dem Norden. Dieses Szenario könnte sich jetzt wiederholen, vermutet etwa der britische Ex-General Richard Dannatt (72) im Interview mit «Sky News».

Die Ukraine wird einen Teil ihrer Truppen aus dem Donbass und dem Süden zurück an die belarussische Grenze schicken müssen. Das schwächt ihre Schlagkraft auf den Hauptkampffeldern des Krieges.

2) Atomare Antwort

Der Einsatz von Atombomben ist eine der letzten roten Linien, die Putin noch nicht überschritten hat. Im Nachgang zum Prigoschin-Aufstand, den russische Propagandisten gerne als getarntes Manöver des Westens darstellen, fordern radikale Kreise in Moskau jetzt aber den Einsatz von nuklearen Waffen. Zu ihnen gehörte etwa der Putin-Berater Sergej Karaganow (70), der bereits darüber spekuliert, wen Moskau als erstes ins nukleare Visier nehmen sollte.

Doch russische Atombomben sind nicht die einzige nukleare Bedrohung. Laut dem ukrainischen Geheimdienst haben die Russen vier der sechs Reaktoren im Atomkraftwerk Saporischschja (dem grössten AKW Europas) mit Sprengstoff bestückt. Eine Explosion im besetzten AKW hätte verheerende Folgen für ganz Europa.

3) Hunderte Tote – und kein Durchbruch

Ermutigt vom Chaos in Moskau haben die Ukrainer ihre Gegenoffensive verstärkt. Dabei hat Wolodimir Selenskis (45) Armee laut dem bislang stets zuverlässigen Youtube-Kanal «Military Summary» alleine bei den Kämpfen in den Vororten der Donbass-Stadt Donezk wohl mehr als 400 Soldaten verloren – ohne Gebietsgewinne verzeichnen zu können.

Das Problem: Die Militärwissenschaft geht davon aus, dass es je nach Gelände drei- bis zehnmal mehr Soldaten braucht, um ein Gebiet einzunehmen, als ebendieses Gebiet zu verteidigen. Der Blutzoll, den die Ukraine entrichten muss, um die russischen Verteidigungsanlagen entlang der Kriegsfront einzunehmen, wird gigantisch sein.

4) Mörderische Ablenkungsmanöver

Putin ist ein Meister der Ablenkung. Auf Herausforderungen hat der 70-Jährige oft mit brutalen Aktionen geantwortet, um das heimische Publikum abzulenken. Ein Beispiel: Schon vor seiner Wahl zum Präsidenten liess der damalige Premierminister Putin im September 1999 mutmasslich mehrere Bombenattentate auf Wohnblöcke in Moskau und in anderen russischen Städten inszenieren.

Der unbeliebte Putin bezichtigte tschetschenische Terroristen der Attentate und trat den zweiten Tschetschenienkrieg (1999 bis 2009) los. Das erlaubte ihm, sich als patriotischen Führer zu präsentieren. Seine Popularitätswerte stiegen frappant. Die Wahl zum Präsidenten hatte er auf sicher.

Es bestehen wenig Zweifel daran, dass Putin auch auf die jüngste interne Verunsicherung mit brutalen Ablenkungsmanövern reagieren wird, um sich erneut als starken Mann darzustellen.

5) Der Krieg kommt näher

Durch die Verlagerung der Wagner-Truppen nach Belarus steigt die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen russischen Kämpfern und der Nato. Die beiden belarussischen Nachbarländer Litauen und Polen haben angekündigt, ihre Grenzen zu Prigoschins neuer Wahlheimat stärker zu sichern. Und Deutschland hat versprochen, 4000 weitere Soldaten zur Stärkung der Nato-Ostflanke ins Baltikum zu schicken.

Auch wenn die Wagner-Truppe militärisch keine Chance hätten gegen die hochgerüsteten Nato-Einheiten: Eine direkte Konfrontation zwischen dem westlichen Militärbündnis und der Atommacht Russland kann sich die Welt nicht leisten.

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