So tickt der renommierte Weinkritiker Neal Martin
«Die 100-Punkte-Inflation ist einfach nur lächerlich»

Neal Martin (52) zählt zu den einflussreichsten Weinkritikern der Welt. Mit Blick spricht er über seinen Berufsalltag, sein neues Bordeaux-Buch und wieso er mit 100-Punkte-Bewertungen zurückhaltend ist.
Publiziert: 08.06.2023 um 13:55 Uhr
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Aktualisiert: 08.06.2023 um 18:46 Uhr
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Nicolas GreinacherRedaktor Wein DipWSET

Weinbewertungen mit perfekten 100 Punkten werden so oft vergeben wie nie. Der englische Weinkritiker Neal Martin, der unter anderem mehrere Jahre für Parker schrieb, verweigert sich diesem Trend. Wir nehmen die Veröffentlichung seines neuen Bordeaux-Buches* zum Anlass, mit ihm zu sprechen und wollen von ihm wissen, wie gut er sich mit Schweizer Weinen auskennt.

Blick: Warum braucht die Welt Weinkritiker?
Neal Martin:
Weinkritiker sind eigentlich völlig irrelevant. Auch ohne Weinkritiker würden Weingüter weiterhin ihre Weine abfüllen. Da Weine heutzutage aber immer teurer werden, sind Weinkritiker aus meiner Sicht wichtiger denn je. Ohne Weinkritiker gäbe es keine unabhängigen Stimmen mehr, die beim Wein die Spreu vom Weizen trennen. Weinkritiker sind auch deshalb unerlässlich, weil Weingüter ihre Weine vermehrt als Luxusgüter vermarkten und auf Markenbildung setzen. In diesem Kontext nehmen Weinkritiker eine objektive Position ein und fällen ein Urteil, dem ihr Publikum entweder zustimmt oder nicht. In letzterem Fall dürfte die Karriere eines Weinkritikers allerdings nur von kurzer Dauer sein.

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«Weinkritiker müssen sich fragen, ob sie nicht nur PR betreiben.»
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Was unterscheidet einen Möchtegern-Weinkritiker von einem Professionellen?
Der amerikanische Autor und Journalist Michael Steinberger (56) sagte einmal, dass heute eigentlich jeder ein Weinkritiker sein könne. Er hat dabei aber nur teilweise recht. Das Internet ermöglicht es jedem, seine Meinung kundzutun, und das ist eine gute Sache. Aber es erzeugt auch viel Unsinn. Der Unterschied besteht darin, dass ein professioneller Kritiker bestimmte Kriterien erfüllen muss: fundiertes Fachwissen, persönliche Erfahrung mit Massstäben, Objektivität, die Fähigkeit zur Kommunikation und dadurch sprachliche Fähigkeiten sowie eine harte Arbeitsethik. Ich arbeite auch am Wochenende, weshalb ich meine beiden Kinder leider viel zu selten sehe.

Der englische Weinkritiker Neal Martin schreibt für die amerikanische Fachpublikation «Vinous», nachdem er lange für «The Wine Advocate» von Robert Parker Jr. unterwegs war.
Foto: David Pearce
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Wie viele Weine verkosten Sie normalerweise pro Tag, wenn Sie unterwegs sind?
So zwischen 40 und 60, mit gelegentlichen Pausen zwischen den Besuchen oder auf einem Flug. Manchmal probiere ich mehr, aber das ist eher ungewöhnlich. Die Leute vergessen oft, dass ich fürs Schreiben bezahlt werde, nicht fürs Trinken. Daher verwende ich etwa die Hälfte meiner Zeit fürs Nachdenken und Tippen.

Der beste Weinkritiker der Welt

Der Engländer Neal Martin (52) führte mehrere Jahre seine eigene Weinpublikation «Wine Journal», bevor ihn Robert Parker Jr. im Jahr 2006 zum «The Wine Advocate» holte. Der Aufschrei in der Weinbranche war gross, als Martin dem «Wine Advocate» den Rücken kehrte, um sich im Jahr 2018 seinem Berufskollegen Antonio Galloni und der Fachpublikation «Vinous» anzuschliessen. Dort ist er bis heute als Senior Editor tätig und bewertet die Weine der Regionen Bordeaux, Burgund, Tokaj, England und Südafrika. Während seiner Karriere gewann Martin zahlreiche Preise, unter anderem wurde er an der «Best Wine Critic Competition 2020» als bester Weinkritiker der Welt ausgezeichnet. Martin lebt zusammen mit seiner Frau Tomoko und seinen beiden Töchtern Lily und Daisy in England.

Der Engländer Neal Martin (52) führte mehrere Jahre seine eigene Weinpublikation «Wine Journal», bevor ihn Robert Parker Jr. im Jahr 2006 zum «The Wine Advocate» holte. Der Aufschrei in der Weinbranche war gross, als Martin dem «Wine Advocate» den Rücken kehrte, um sich im Jahr 2018 seinem Berufskollegen Antonio Galloni und der Fachpublikation «Vinous» anzuschliessen. Dort ist er bis heute als Senior Editor tätig und bewertet die Weine der Regionen Bordeaux, Burgund, Tokaj, England und Südafrika. Während seiner Karriere gewann Martin zahlreiche Preise, unter anderem wurde er an der «Best Wine Critic Competition 2020» als bester Weinkritiker der Welt ausgezeichnet. Martin lebt zusammen mit seiner Frau Tomoko und seinen beiden Töchtern Lily und Daisy in England.

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Wenn Sie die Schweiz mit irgendetwas in Verbindung bringen, wäre Wein dabei?
Nein. Das ist aber allein mein Fehler, weil ich nicht genug Schweizer Weine probiert habe, nicht der Fehler der Schweiz. Hier in Grossbritannien sehen wir sehr wenig Schweizer Wein. Mit der Schweiz verbinde ich eher die Band Yello, Roger Federer (41), schicke Uhren und schneebedeckte Berge.

Können Sie sich dennoch an den letzten Schweizer Wein erinnern, den Sie probiert haben?
Ja, das war ein ausgezeichneter 2018er Pinot Noir Réserve Privée von Martin Donatsch (44).

Sprechen wir über Ihr neues Bordeaux-Buch, wo Sie sämtliche Jahrgänge zwischen 1870 und 2020 beschreiben. Wie lange hat es gedauert, alle Informationen zusammenzutragen?
Mit dem Schreiben habe ich im zweiten Jahr des Lockdowns 2021 begonnen, es hat also nicht allzu lange gedauert. Geschrieben habe ich es hauptsächlich in meiner Freizeit, während ich auf Züge wartete oder spät in der Nacht. Es fühlte sich an, wie das Zusammenfügen eines Puzzles.

Im Buch fügen Sie buchstäblich Farbe zu jedem Bordeaux-Jahrgang hinzu, indem Sie Informationen über kulturelle Ereignisse wie Musik oder Filme, die in diesem Jahr veröffentlicht wurden, oder politische Ereignisse erwähnen. Warum schreiben Sie in einem Wein-Buch nicht einfach nur über Wein?
Das wäre viel zu langweilig. Es gibt schon genug langweilige Weinliteratur und ich möchte nicht noch dazu beizutragen. Mich von anderen Schreibweisen abzuheben, ist mir wichtig, damit meine Texte eine persönliche Note bekommen. Wein existiert nicht in einer hermetisch abgeriegelten Welt. Wein ist Teil des alltäglichen Lebens, was auch das Schreiben über Wein widerspiegeln sollte. Mein Buch nimmt diese Idee auf und treibt sie weiter voran. Und es funktioniert deshalb so gut, weil es das Publikum erweitert und nicht nur diejenigen anspricht, die von besessen Wein sind.

Viele haben den Eindruck, dass die Preise für Bordeaux-Weine mittlerweile übertrieben hoch sind. Stimmen Sie dem zu?
Ja. Ich vermisse die Zeiten, in denen ich mir einen anständigen Bordeaux aus einem schwächeren Jahrgang leisten konnte. Das war ein wichtiger Teil meines Lernprozesses und wird der jüngeren Generation verwehrt, es sei denn, man ist wohlhabend geboren. Andererseits ist alles relativ. Bordeaux ist deutlich teurer als Südafrika, aber weit günstiger als viele Weine aus dem Burgund oder Kalifornien. Winzer erkennen oft nicht, dass sie, wenn sie sich an ein wohlhabenderes Publikum richten, einen grossen Teil derjenigen ausschliessen, die eine echte Leidenschaft für ihr Handwerk haben. Stattdessen sprechen sie Verbraucher an, für die das Etikett wichtiger ist als der Inhalt. Ist es wirklich das, was diese Winzer wollen?

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«Ein perfekter Wein betritt eine spirituelle Ebene, die nur einer winzigen Anzahl von Flaschen vorbehalten ist.»
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Perfekte Weinbewertungen schnellen überall in die Höhe. Sie hingegen sind bei 100-Punkte-Auszeichnungen eher zurückhaltend. Was sind Ihre persönlichen Anforderungen an einen Wein, der diese Punktzahl verdient?
Diese 100-Punkte-Inflation ist einfach nur lächerlich. Viele Leute werden enttäuscht sein, wenn sie solche Weine zu Hause öffnen. Und diejenigen Weinkritiker, die die Weine über niedrige Hürden springen lassen, werden früher oder später an Glaubwürdigkeit verlieren. Das passiert übrigens bereits. Für mich geht ein perfekter Wein über herkömmliche Messgrössen hinaus. Er betritt eine spirituelle Ebene, die nur einer winzigen Anzahl von Flaschen vorbehalten ist. Eine Voraussetzung ist, dass es keinerlei Zweifel gibt, dass man sich in Anwesenheit eines 100-Punkte-Weins befindet. Wenn auch nur ein flüchtiger Moment des Zweifels aufkommt, dann ist er keine 100 Punkte wert. Immer wenn ich 100 Punkte vergebe, muss es ein Ereignis sein. Spätestens wenn man beim Verkosten eines 100-Punkte-Wein gleichgültig mit der Schulter zuckt, müssen sich die sogenannten Weinkritiker fragen, ob sie nicht einfach nur PR betreiben.

Wenn ich Sie bitten würde, einen Bordeaux-Jahrgang zwischen 1870 und 2020 auszuwählen, zu dem Sie eine besondere persönliche Bindung haben, welchen würden sie wählen und weshalb?
Lassen wir mal mein Geburtsjahr 1971 beiseite, von dem ich schon oft geschwärmt habe. Klischeehaft wie es auch sein mag, die 1945er haben etwas Magisches und Berührendes an sich, wenn man den historischen Kontext betrachtet. Ich habe auch eine Vorliebe für 1955, die sowohl für Bordeaux als auch für Burgund konstant zu sein scheint. Der Jahrgang wurde viele Jahre lang unterschätzt und ich begann ihn erst nach einem ätherischen 1955er Lynch-Bages zu loben. Weiter fühle ich mich zu verrufenen Jahrgängen wie 1946 oder 1956 hingezogen, da sie so selten zu finden sind. Die Weine an sich mögen schwach sein, aber die Hintergrundgeschichte einer schwierigen Saison ist faszinierend. Im 20. Jahrhundert gibt es fünf Jahrgänge, die ich noch nie probiert habe: 1901, 1903, 1905, 1910 und 1932. Diese Jahrgänge würde ich sehr gerne einmal probieren.

Sie sind gerade aus Bordeaux zurückgekehrt, wo Sie die Weine des Jahrgangs 2022 verkostet haben. Wie viele Weine haben Sie probiert und können sie die allgemeine Begeisterung anderer Weinkritiker für diesen Jahrgang teilen?
Ich habe etwa 700 Weine probiert, diejenigen der Top-Châteaus sogar mehrmals. Grundsätzlich teile ich die Begeisterung anderer, möglicherweise aber mit weniger potenziellen 100-Punkte-Weinen.

* Neal Martin, «The Complete Bordeaux Vintage Guide: 150 Years from 1870 to 2020», Hardie Grant, London (Englisch).

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