40 Prozent der Schweizer sind übergewichtig, Tendenz steigend
Wie viele Kilos sind zu viel?

Jedes Kilo zu viel verkürzt das Leben, heisst es immer. Aber es gibt auch Hinweise darauf, dass ein bisschen mehr auf den Rippen sogar nützen könnte. Sich im Durcheinander der Forschungsresultate zu orientieren, fällt schwer: Ist rund am Ende doch gesund?
Publiziert: 08.02.2018 um 15:02 Uhr
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Aktualisiert: 13.01.2022 um 15:54 Uhr
Georg Rüschemeyer

Hüftpolster liegen im Trend. Über 40 Prozent der erwachsenen Schweizerinnen und Schweizer sind laut Zahlen des Bundesamts für Statistik übergewichtig oder fettleibig. Manche finden sich gut so, wie sie sind. Die anderen stürmen gerade Anfang Jahr ins Fitnessstudio oder auf die Joggingstrecke, weil sie lästige Kilos verlieren wollen. Etwas Fett trägt jeder gesunde Mensch mit sich herum, so viel steht fest. Es dient als Speicherstoff und bildet eine wärmende Isolierschicht. Zu viel der Fülle ist zweifellos ungesund. Doch wo genau liegt die Grenze zwischen ein bisschen pummelig und gefährlich dick?

Als halbwegs objektives Mass von Dünn- und Dickleibigkeit hat sich seit langem der Body Mass Index (BMI) durchgesetzt. Ab einem BMI von 25 spricht man von Übergewicht, ab einem Wert von 30 von Fettleibigkeit oder Adipositas.

Adipositas – Auslöser für viele Krankheiten

Aus gängiger medizinischer Sicht ist Adipositas einer der wichtigsten Risikofaktoren für Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen oder Bluthochdruck und gilt damit zusammen mit Tabak und Alkohol als eine der Hauptursachen für vorzeitige und vermeidbare Todesfälle in Industriestaaten. Wie genau das überschüssige Fett im Körper diese physiologischen Konsequenzen hervorruft, ist nicht komplett geklärt. «Fettgewebe ist jedenfalls nicht nur ein passiver Kalorienspeicher», sagt Michael Leitzmann, Direktor des Instituts für Epidemiologie und Präventivmedizin an der Universität Regensburg: «Vor allem das Viszeralfett im Bauchraum greift als Produzent einer Vielzahl von Hormonen und Botenstoffen aktiv in den Stoffwechsel ein. Auf Dauer bringt zu viel Viszeralfett den Stoffwechsel deshalb aus dem Gleichgewicht und macht krank.»

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Zwar würden grosse Beobachtungsstudien, in denen der statistische Zusammenhang zwischen Adipositas und Volkskrankheiten zutage tritt, noch nichts über Ursache und Wirkung aussagen. Aber zahllose Laboruntersuchungen an Tieren und Zellkulturen hätten diese Zusammenhänge zweifelsfrei belegt.

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Wirklich dick zu sein sei also eine Gesundheitsgefahr – darin sind sich Mediziner und Epidemiologen einig. Doch wie steht es um jene 39 Prozent der Männer und 23 Prozent der Frauen in der Schweiz, die mit einem BMI zwischen 25 und 30 in die Kategorie «Übergewicht» fallen? Leiden auch sie an negativen Folgen ihrer Fettpolster? Oder gilt für sie vielmehr «ein bisschen rund ist gesund»?

Etwas Übergewicht schadet nicht?

Über diese Frage ist in den vergangenen Jahren eine erstaunlich aufgeregte Debatte entbrannt. Der Streit begann 2005 mit einer Studie, die Wissenschaftler um Katherine Flegal von der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC veröffentlichten. Flegal analysierte Daten des National Health and Nutrition Examination Survey, einer seit 1971 laufenden Studie, für die Tausende repräsentativ ausgewählter Amerikaner über Jahre hinweg mehrfach nach ihrem Lebensstil befragt und medizinisch untersucht wurden.

Für die wirklich Dicken mit einem BMI über 30 kam die Analyse erwartungsgemäss zu einem unschönen Ergebnis: Auf die gesamte Bevölkerung der Vereinigten Staaten hochgerechnet, waren in der fettleibigen Gruppe im Vergleich zu den Normalgewichtigen rund 112'000 zusätzliche Todesfälle aufgetreten. In der Gruppe der nur geringfügig Übergewichtigen zeigte sich allerdings das Gegenteil: Sie wiesen eine geringere Sterblichkeit auf als der Rest.

Das Ergebnis der Studie wurde sofort angezweifelt, obwohl sie nicht die erste war, die zu diesem Ergebnis gekommen war. Zu den entschiedensten Kritikern zählte Walter Willett von der Harvard Medical School in Boston, Amerikas wohl prominentester Ernährungsmediziner. Als Flegal acht Jahre danach eine Metaanalyse auf Basis von fast hundert Studien und annähernd drei Millionen Teilnehmern nachlegte, die mit einem ähnlichen Resultat endete, schäumte Willett in einem Radiointerview: «Das ist ein Haufen Müll, und niemand sollte seine Zeit damit vergeuden, das zu lesen.»

Zweifel wegen Rauchern

Der Ernährungsmediziner Willett bemängelte vor allem, dass zwei Störfaktoren, welche die Statistik verzerrt hätten, nicht angemessen berücksichtigt worden seien. Zum einen gäbe es da die Raucher, bei denen ein geringerer BMI mit einer höheren Sterblichkeitsrate verbunden ist. Und zum anderen dünne Menschen, die nur deshalb dünn sind, weil sie an einer noch unentdeckten Krankheit leiden. Tatsächlich kann ein schleichender Gewichtsverlust schon Jahre vor der Diagnose einer ernsthaften Krankheit einsetzen. Die Betroffenen sind dann also schlank, weil krank – reverse Kausalität nennen Epidemiologen diesen Effekt.

Aber auch andere Faktoren wie Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen kommen bei solchen Beobachtungsstudien mit ins Spiel. Finden sich Zusammenhänge, müssen die keineswegs etwas über Ursache und Wirkung aussagen. Möglichen Effekten müsste man dann eigentlich in kontrollierten Studien auf den Grund gehen. Im Falle von BMI und Sterblichkeit ist das jedoch kaum möglich: Kein Studienteilnehmer liesse sich dazu verdonnern, jahrelang ein bestimmtes Gewicht zu halten oder sich extreme Fettpolster anzufressen.

Hunger nach Anerkennung

Essen scheint die normalste Sache der Welt. Doch in der Schweiz leiden vier Prozent der Bevölkerung an einer Essstörung. Viele junge Mädchen leiden an Essstörungen. Betroffen sind durchweg junge Frauen bis 25. Nur einer von zehn Patienten mit einer Essstörung ist männlich – wobei die Beratungsstellen eine leichte Zunahme konstatieren.

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Essen scheint die normalste Sache der Welt. Doch in der Schweiz leiden vier Prozent der Bevölkerung an einer Essstörung. Viele junge Mädchen leiden an Essstörungen. Betroffen sind durchweg junge Frauen bis 25. Nur einer von zehn Patienten mit einer Essstörung ist männlich – wobei die Beratungsstellen eine leichte Zunahme konstatieren.

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Schwierige Probanden-Auswahl

Wenn Beobachtungsstudien nun mal alles sind, was wir haben, müsste man also versuchen, sie aussagekräftiger zu machen. Zum Beispiel durch statistische Korrekturen oder eine besser durchdachte Auswahl der Probanden.

«Die heftige Debatte über die Risiken von Übergewicht dreht sich letztlich um eben diese Frage, wie mit Rauchern und dünnen Kranken umgegangen werden soll», sagt Michael Leitzmann. Die Epidemiologin Katherine Flegal selbst nutzt Korrekturfaktoren, die etwa den Effekt des Rauchens ausgleichen sollen. Doch auch das ist schwierig. Denn den standardisierten Raucher gibt es nicht – wie viel jemand wirklich raucht oder wie tief er inhaliert, lässt sich kaum sagen. Auch wie man mit ehemaligen Rauchern umgehen soll, bleibt eine grosse Unsicherheit.

Setzt man stattdessen auf eine strengere Auslese und berücksichtigt nur Studienteilnehmer, die beispielsweise noch nie geraucht haben oder bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nach der Datenerhebung gesund bleiben, kann das zum Ausschluss eines Grossteils der Teilnehmer führen. Das betraf auch eine 2016 publizierte Analyse, in der Forscher 239 Beobachtungsstudien aus aller Welt auswerteten. Von insgesamt fast elf Millionen Teilnehmern endeten schliesslich weniger als vier Millionen in der Auswertung. Das Ergebnis fiel dann aber auch ganz anders aus: Im Durchschnitt verloren Übergewichtige ungefähr ein Jahr ihrer Lebenserwartung, moderat Fettleibige rund drei Jahre. Die wenigsten Sterbefälle fanden sich unter Normalgewichtigen mit BMI zwischen 20 und 25.

Hahnenkämpfe unter Forschern

Nur: Wie repräsentativ sind solche Resultate, wenn mehr als die Hälfte aller Datensätze von vornherein herausfliegen? Soll man eher Wert auf einen realistischen Bevölkerungsquerschnitt oder auf eine maximale Aussagekraft der wenigen eingeschlossenen Daten legen? Spätestens in dieser Frage wird aus objektiver Wissenschaft eine ziemliche Schlammschlacht, in der sich die Beteiligten gegenseitig der gezielten Manipulation und Rosinenpickerei bezichtigen.

Streitfragen gibt es mehr als genug. Sind beispielsweise nur solche Daten glaubhaft, die von medizinischem Personal erfasst werden? Oder reichen Selbstauskünfte der Teilnehmer? Ist der sogenannte Studienendpunkt Todesfall wirklich aussagekräftig? Oder sollte man lieber «weiche Faktoren» wie die Lebensqualität betrachten?

Bei der Erhebung fragt man sich, ob nur solche Daten glaubhaft sind, die von medizinischem Personal erfasst werden? Oder reichen Selbstauskünfte der Teilnehmer?
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Hinzu kommt, dass der BMI als allgegenwärtiges Mass der Fettleibigkeit wohl nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Er hat zwar den Vorteil, dass er einfach zu ermitteln ist. Doch dabei geht die individuell unterschiedliche Konstitution verschiedener Menschen weitgehend unter. Es gibt beispielsweise annähernd fettfreie Kraftsportler, die BMI-Werte von weit über 25 erreichen. Und für die Gesundheit von Otto Normalverbraucher zählt, wie man inzwischen weiss, vor allem das physiologisch aktivere Viszeralfett im Bauch, das sich im BMI nicht vom relativ harmlosen Unterhautfett unterscheiden lässt.

Sich als Laie in diesem Gefecht der Argumente ein Bild zu machen, fällt nicht leicht, zumal auch die Berichterstattung in den Medien in regelmässigem Turnus mal Entwarnung für alle Molligen und dann wieder neue Hiobsbotschaften liefert. Unter dem Strich bleibt die recht banale Empfehlung, dass Normal- wie Übergewichtige versuchen sollten, sich gesund zu ernähren und ausreichend zu bewegen.

Im Zweifel dürfte ein aktiver Mensch mit BMI 26 gesünder und glücklicher sein als ein Couch-Potato mit BMI 24. Und am Ende kann man als Übergewichtiger selbst in den Studien der «Fett macht krank»-Fraktion ein Quäntchen Trost finden. Denn auch wenn der optimale BMI in den Sterblichkeitskurven der Forscher unter 25 liegen mag – richtig in die Höhe geht die Kurve erst für starkes Übergewicht. Dass sich für BMI-Werte zwischen 25 und 30 keine wirklich gesicherten Effekte finden lassen, könnte schlicht daran liegen, dass sie in Wirklichkeit gering sind.

Produced by: higgs – das Magazin für alle, die es wissen wollen


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