Leitender Psychologe Jannis Behr erklärt
Wieso haben in der sicheren Schweiz so viele Angst?

Gemäss einer Umfrage des «Sanitas Health Forecast» leidet jede fünfte Person in der Schweiz ständig an Angst. Wie man sich hilft und weshalb wir so ängstlich sind, erklärt Jannis Behr (31), leitender Psychologe der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel.
Publiziert: 17.06.2024 um 15:00 Uhr
|
Aktualisiert: 19.06.2024 um 11:30 Uhr

Blick: Die Schweiz belegt einen weltweiten Spitzenplatz, was Angststörungen angeht. Dabei sind wir eines der reichsten, sichersten Länder der Welt – wie geht das zusammen?
Behr:
Es ist der Kern der Angststörungen, dass sie keinen Realitätsbezug haben. Es braucht aber einen Auslöser für Angsterkrankungen und das ist sehr oft akuter oder chronischer Stress. Ich kann mir schon vorstellen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der sehr viel Leistung gefordert wird, und dass dies der Grund für diese hohe Zahl ist. Zudem ist der Vergleich zwischen Ländern methodisch oft schwierig.

Gemäss Umfrage des «Sanitas Health Forecast» hat jeder Fünfte in der Schweiz oft oder immer Angst. Deckt sich das mit Ihrer Erfahrung?
Aus der Forschung wissen wir: Das Risiko innert eines Jahres an einer Angststörung zu erkranken liegt bei ungefähr 14 bis 15 Prozent. Im Verlauf des ganzen Lebens liegt das Risiko zwischen 15 und 30 Prozent.

Das ist ja sogar jeder sechste bis dritte!
Ja, aber man muss sich vergegenwärtigen, dass es verschiedene Angststörungen gibt, die da mitgezählt werden: Phobien, Panikstörungen und generalisierte Angststörungen. Bei den Phobien unterschieden wir hauptsächlich zwischen sozialen Phobien, der Agoraphobie – also Angst vor öffentlichen Plätzen, zum Beispiel ÖV zu fahren, was bis zur Unmöglichkeit führen kann, das Haus oder die Wohnung zu verlassen – und spezifischen Phobien, beispielsweise vor Tieren wie Spinnen, Schlangen oder Vögeln oder vor Höhenangst.

Der Sanitas Health Forecast 2024 beschäftigt sich unter anderem mit Angst.
1/7

Und wie sind da die Risiken, zu erkranken?
Bei den sozialen Phobien sind es 12,1 Prozent, bei Panikstörungen und Agoraphobie 6.1 Prozent, bei generalisierten Angststörungn 5,7 Prozent, immer über die Lebenszeit gerechnet. Spezifische Phobien sind noch häufiger.

Was ist eine Panikstörung genau?
Wenn einem aus heiterem Himmel starke Anfälle von Angst, teilweise mit körperlichen Symptomen wie Herzrasen, Schwindel, Übelkeit, Atemnot und den Gedanken, etwa einen Herzinfarkt zu haben und zu sterben, überwältigen, ohne, dass es einen äusseren Anlass dafür gibt.

Und was verstehen Sie unter einer generalisierten Angststörung?
Wenn man sich stundenlang lähmende Sorgen macht, ohne einen triftigen Grund dafür zu haben. Etwa, dass der Partner an einem Verkehrsunfall stirbt, dass man seinen Job verliert, dass man schwer erkranken wird, dass seinem Kind etwas zustösst – ohne dass man dies innerlich «abstellen» kann.

Kann ich etwas gegen Angststörung tun?
Ja. Angststörungen gehören zu den am besten behandelbaren psychischen Krankheiten. Problematisch sind teilweise soziale Phobien, weil es da zum Krankheitsbild gehört, dass sich die Menschen nicht getrauen, sich in Behandlung zu begeben.

Wie behandeln Sie denn grundsätzlich Angststörungen?
Bei vielen Ängsten hilft die sogenannte Expositionstherapie. Dabei geht es darum, sich genau den Situationen auszusetzen, die einem Angst machen – um zu merken, dass einem nichts passiert. Bei einer generalisierten Angststörung geht es darum, sich den schrecklichsten Fall, um den die Gedanken kreisen, tatsächlich bildhaft vorzustellen, statt zu versuchen, die Gedanken abzuwehren.

Moment, wenn ich also Angst davor habe, meinem Kind könnte etwas zustossen, soll ich mir das im Detail vorstellen?
Ja, mit therapeutischer Begleitung. Es erscheint für viele Menschen unaushaltbar, sich
Schreckliches im Detail vorzustellen. Aber wenn einen täglich unkontrollierbar Sorgen im Alltag lähmen, wird ein normales Familienleben oder ein Funktionieren in Job und
Freundeskreis unmöglich und der Leidensdruck riesig. Die Therapie, wenn auch hart, ist dann das kleinere Übel.

Wie bemerke ich rechtzeitig, dass ich auf eine Angsterkrankung zusteuern könnte?
Wenn man sich nicht beruhigen kann, wenn meine Reaktion stärker ist, als es ein Auslöser berechtigt, wenn ich beginne, Dinge zu vermeiden. Man redet im psychiatrischen Umfeld aber erst von einer Störung, wenn der Alltag eingeschränkt wird und ein Leidensdruck besteht.

Kann ich selbst etwas tun, um eine Angsterkrankung zu vermeiden?
Absolut! Zunächst geht es darum, eigene Ängste oder gegebenenfalls Vermeidungsverhalten überhaupt selbst zu bemerken. Dann sollte man dieser Vermeidung keine Chance gehen, und alles, was einem Angst macht, trotzdem tun.

Haben Sie einen Tipp, wie einem das einfacher fällt?
Es hilft, sich die Angst bildlich als Figur oder Karikatur vorzustellen, die als nerviger, mühsamer, ungebetener Gast einfach ungebeten mitkommt. So kann man seine eigene Person sozusagen von der Angst abkoppeln und die Angst distanzierter betrachten.


Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?