Jedes vierte Kind ist betroffen
Mit Emmo gegen Gewalt im Kinderzimmer

Viele Kinder leiden unter körperlicher und psychischer Misshandlung der Eltern. Corona hat das Problem verschärft. Ein neues Stofftier von Kinderschutz Schweiz soll den Kindern in brenzligen Situationen helfen.
Publiziert: 27.10.2021 um 00:52 Uhr
Lea Ernst

Schlagen, schimpfen, an den Haaren ziehen: Laut einer Studie der Universität Freiburg gehört körperliche Gewalt für jedes zwanzigste, psychische Gewalt sogar für jedes vierte Schweizer Kind zum Alltag. Um auf das Thema «Gewalt in der Erziehung» aufmerksam zu machen, hat Kinderschutz Schweiz nun das Plüschmönsterli Emmo entworfen.

Damit will der Kinderschutz Schweiz den Kleinen, die ihre Gefühle oftmals nicht in Worte fassen können, eine Stimme geben. Mit dem Plüschmönsterli signalisieren Kinder, wenn es ihnen nicht gut geht. Emmo lacht im Ausgangszustand über beide Wangen. Hören die Eltern nicht auf zu schimpfen oder fühlt es sich anderweitig bedroht, kann das Kind sein Monster umstülpen: Schon ist das es grau, das Gesicht traurig und sein Herz gebrochen.

Ungewollte Gewalt

Regula Bernhard Hug (46), Leiterin der Geschäftsstelle Kinderschutz Schweiz, sagt: «Eltern sind in der Wut oftmals so in ihrem eigenen Film, dass sie die Beziehung zu ihrem Kind und dessen Gefühle vergessen.» Das Stoffmonster soll sie daran erinnern, innezuhalten und einen anderen Weg zu wählen.

Kinderschutz Schweiz lanciert das Plüschmonster Emmo. Weil körperliche Gewalt immer noch für jedes zwanzigste, psychische Gewalt sogar für jedes vierte Schweizer Kind zum Alltag gehört.
Foto: zVg
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Die allerwenigsten Eltern wollten ihrem Kind vorsätzlich wehtun. Im Gegenteil: Gemäss der Studie der Universität Freiburg streben beinahe alle Elternteile, bei denen es manchmal zu Gewalt kommt, eine gewaltfreie Erziehung an. «Doch bei Stress oder Streit kann der Schalter schnell kippen», sagt Bernhard Hug. «Und es kommt zu Taten oder Worten, die danach bitter bereut werden.»

Corona hat dieses Problem noch verschärft. Die Schweizer Fachstellen wurden mit Anrufen überforderter Eltern überrannt. Bernhard Hug sagt: «Da waren gesundheitliche, finanzielle, gar existenzielle Sorgen der Eltern, alles Risikofaktoren für Gewalt.» Durch die geschlossenen Schulen und das Homeoffice sei das Zusammensein auf engem Raum über längere Zeit dazugekommen. Externe Instanzen wie Lehrerinnen oder Kita-Betreuer fielen weg, deshalb konnten sie Gefährdungen weder erkennen noch melden.

Politikum gewaltfreie Erziehung

Laut Bernhard Hug war Gewalt vor drei Generationen eine akzeptierte Erziehungsmethode. Heute sei die Gesellschaft sensibilisiert, doch führe das zu neuen Problemen: «Statt im öffentlichen Raum findet die Gewalt versteckt im Kinderzimmer statt.»

Das Problem ist ein Politikum. Heute ist Gewalt in der Erziehung gemäss Bundesgericht in einem gesellschaftlich tolerierten Mass erlaubt. Fachstellen fordern ein explizites Verbot. Gerade sprach sich der Nationalrat erstmals klar für die Einführung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung aus. Als Nächstes wird der Ständerat darüber befinden – voraussichtlich in der Wintersession.

Elternberaterin Patrizia Luger (44) hat Tipps: So entschärfen Eltern Stress-Situationen

Trotzphasen sind wichtige Entwicklungsschritte der Kinder. Für Streitsituationen sollten Eltern Notfallstrategien bereithalten: zum Beispiel tief durchatmen, Hampelmänner machen, Treppen steigen oder kurz an die frische Luft gehen. Wichtig: Die Verantwortung, die Situation zu entschärfen, liegt immer bei den Eltern und niemals beim Kind. Damit das Stresslevel nicht ständig kurz vor dem Explodieren steht, sollten die Bedürfnisse der Eltern so gut wie möglich erfüllt sein.

Eskaliert ein Streit trotzdem, sollten sie die Situation für sich selber reflektieren und überlegen, welche Reaktion besser gewesen wäre. In einem weiteren Schritt kann man sich beim Kind entschuldigen und ihm erklären, was einen wütend gemacht hat. Haben Eltern selber nicht gelernt, mit Wut umzugehen, fehlt ihnen die Vielfalt an Strategien, die es dafür bräuchte. Durch die gemeinsame Reflexion können sie dies gleich mit dem Kind lernen. Gewaltfreie Alternativen gibt es immer – aber man muss sie kennen.

Trotzphasen sind wichtige Entwicklungsschritte der Kinder. Für Streitsituationen sollten Eltern Notfallstrategien bereithalten: zum Beispiel tief durchatmen, Hampelmänner machen, Treppen steigen oder kurz an die frische Luft gehen. Wichtig: Die Verantwortung, die Situation zu entschärfen, liegt immer bei den Eltern und niemals beim Kind. Damit das Stresslevel nicht ständig kurz vor dem Explodieren steht, sollten die Bedürfnisse der Eltern so gut wie möglich erfüllt sein.

Eskaliert ein Streit trotzdem, sollten sie die Situation für sich selber reflektieren und überlegen, welche Reaktion besser gewesen wäre. In einem weiteren Schritt kann man sich beim Kind entschuldigen und ihm erklären, was einen wütend gemacht hat. Haben Eltern selber nicht gelernt, mit Wut umzugehen, fehlt ihnen die Vielfalt an Strategien, die es dafür bräuchte. Durch die gemeinsame Reflexion können sie dies gleich mit dem Kind lernen. Gewaltfreie Alternativen gibt es immer – aber man muss sie kennen.

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