Konkurrenz durch QR-Codes
Die Speisekarte wird zum Prestigeobjekt

Sie gilt als Visitenkarte eines Restaurants. Doch Corona hat die Speisekarte zu dem gemacht, was sie früher einmal war: ein Prestigeobjekt.
Publiziert: 01.10.2022 um 16:02 Uhr
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Aktualisiert: 02.10.2022 um 11:18 Uhr
Jonas Dreyfus

Wer im Restaurant Stucki in Basel ein nach Farben geordnetes Menü mit neun Gängen bestellt, darf eine kleine Speisekarte im Postkartenformat mit nach Hause nehmen. Auf der Vorderseite ist sie mit einer Collage bedruckt, die unter anderem einen vergrösserten Ausschnitt eines moosbedeckten Waldbodens zeigt. Das passt zu den grün melierten Brottellern, Teelichtern und Vasen, mit denen der Tisch gedeckt ist. Die Karte sei als Andenken gedacht, sagt Tanja Grandits (52), Chefin des Stucki. «Oftmals bitten mich Gäste um eine Widmung.»

Die Speisekarten zum Mitnehmen gab es im Stucki schon vor der Pandemie – und zwar zusätzlich zur regulären Karte, auf die Grandits, aufgrund von Corona, vorübergehend verzichtete. Denn Papier, das von Hand zu Hand gereicht wird – das war zu Zeiten, als Covid-19 die Schweiz in Atem hielt, ein No-Go. Im ersten Schutzkonzept für Restaurants vom Mai 2020 war festgehalten, dass das Servicepersonal Menükarten nach jedem Gast reinigen und desinfizieren muss. Bereits im Juni strich der Bund die Bestimmung wieder.

Trotzdem setzte sich an vielen Orten eine digitale Alternative durch: der QR-Code. Ihn scannen Gäste mit der Kamera ihres Smartphones, worauf der Webbrowser die Auswahl an Speisen und Getränke, die ein Lokal anbietet, online anzeigt.

Im Restaurant Stucki in Basel dürfen Gäste eine kleine Speisekarte als Andenken mit nach Hause nehmen.
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Online-Karten machen asozial

Das klingt nach einer praktischen Lösung, führt jedoch dazu, dass wir in einem Moment, in dem viele von uns bewusst das Handy zur Seite legen, auf dem Bildschirm herumscrollen, als suchten wir ein wichtiges E-Mail. Statt mit dem Gegenüber, das man vielleicht lange nicht mehr gesehen hat, Smalltalk zu machen, versucht nun jeder, sich erst einmal auf einem PDF zurechtzufinden, das in ausgedruckter Form womöglich so breit wäre wie der Tisch, an dem man Platz genommen hat.

Eine digitale Speisekarte würde nicht zu ihr und ihrem Restaurant passen, sagt Grandits. «Ich mag das Haptische, sogar meine Agenda ist noch aus Papier.» Inzwischen ist in ihrem Restaurant die reguläre Karte wieder im Umlauf. Sie ist aus schwerem, goldfarbenem Karton und mit einer Fenchelblüte bedruckt. Innen leuchten die Ränder in Pink.

Eine Karte in Deutsch, Französisch und Englisch zu bewirtschaften, inklusive einer vegetarischen Variante, sei aufwendig, sagt Grandits. «Aber ich mag die Bewegung, mit dem die Kellnerin oder der Kellner sie dem Gast überreicht. Es gehört für mich zum Ritual des Willkommenheissens.»

Nicht chic, aber umso praktischer

Eine ausschliesslich digitale Speisekarte könne in der gehobenen Gastronomie unpassend erscheinen, sagt Patrik Hasler-Olbrych (47) vom Arbeitgeberverband Gastrosuisse. Doch die Zugänglichkeit via QR-Code habe – unabhängig von Corona – auch Vorteile. Wirte können das Angebot verändern, ohne gleich alle Karten ersetzen zu müssen. Und Angaben zu Lieferanten und Produzenten lassen sich online leicht verlinken. Denn es gibt Pflichten, die das Gestalten einer Karte beeinflussen. Seit 1996 muss auf ihr – oder sonst an einem Ort im Restaurant – ersichtlich sein, woher Fleisch und Fisch stammen.

Auch Preisangaben sind Vorschrift. Hier verwenden Gastronomen Kniffs, um Gäste nicht abzuschrecken. Sie lassen zum Beispiel die Bezeichnung «Fr.» weg, weil das offenbar verkaufsfördernd wirkt. Einen ähnlichen Effekt hat das Aufführen einer auffällig teuren Speise und eines teuren Weins, weil es den Rest des Angebots relativ preiswert erscheinen lässt.

Die Psychologie einer Speisekarte

Der britische Psychologieprofessor Charles Spence (53) hat in einer Studie festgestellt, dass ein Gericht bis zu 27 Prozent häufiger bestellt wird, wenn die Zutaten mit passenden Adjektiven angepriesen werden. «Knackige Radiesli, ganz frisch, mit Salz» steht zum Beispiel auf der aktuellen Vorspeisenkarte der Inselwirtschaft Ufnau in Pfäffikon SZ. Als Hauptspeise gibts «rassige Bauernbratwurst» mit Beilagen wie «Grillgemüse, super schmackhaft».

Das Restaurant auf der Insel im oberen Zürichsee gehört Michel Péclard (54). In allen 15 Lokalen, die der Gastronom in Zürich besitzt, sind seit Ende der Schutzkonzepte wieder normale Papierkarten erhältlich. «Wir behalten aber die QR-Codes bei», sagt Péclard. «So kann der Gast schon einmal im Angebot stöbern, falls der Service ‹im Seich› ist und die Menükarte nicht sofort an den Tisch bringen kann.»

Ähnlich klingt es auf Anfrage bei den Kantonalverbänden. Die Karte gelte als Visitenkarte eines Betriebs und sei ein wichtiger Mosaikstein des Erlebnisses, das man dem Gast biete, sagt Bruno Lustenberger (57), Präsident von Gastro Aargau. «Ausser, es muss schnell gehen – dann spielt sie eine untergeordnete Rolle.»

Mit dem Smartphone bestellen und bezahlen

Es sind diese Situationen, in denen sich die elektronische Karte mit QR-Code durchzusetzen scheint. Mehrere Schweizer Start-ups expandieren gerade erfolgreich mit Systemen, bei denen nicht nur die Karte kontaktlos ersichtlich ist, sondern gleich noch online bestellt und bezahlt werden kann. Inklusive Trinkgeld.

Die Betriebe der Familie Wiesner Gastronomie, die in der Deutschschweiz 34 Lokale betreibt, darunter Poke Nation in Basel, Bern und Zürich, verwendet eine der Softwares. «Am Mittag sind alle gestresst, unser Personal, aber auch die Gäste, weil alle gleichzeitig bezahlen möchten», sagt Co-Geschäftsführer Daniel Wiesner (39) gegenüber dem Nachrichtenportal Watson.

Wenn der Lunch ein bitteres Ende nimmt

Wer regelmässig Business-Lunch abhält, weiss, wie nervenaufreibend es sein kann, nach dem Mittagessen, das sowieso schon viel zu lange dauert, zwanzig Minuten auf die Rechnung zu warten. Wer getrennt bezahlen möchte, wartet nochmals zehn Minuten, bis der Serviceangestellte seine oft wenig vertrauenswürdigen Rechenkünste vorgeführt hat oder nachträglich noch einen Espresso einkassieren muss, den er zu tippen vergessen hat. Der Fachkräftemangel, der seit Corona in der Gastrobranche herrscht, begünstigt diese Art von Spektakel.

Dass Software das Personal überflüssig macht, bezweifeln die Gründer der Start-ups. Mit der gewonnenen Zeit könnten sich die Serviceangestellten vermehrt auf die persönliche Beratung konzentrieren, sagt Ben Adiba von Twenty Pay zu Watson. «Das ist ihre wahre Passion, nicht das Münz- und Notenzählen.»

Schon im 18. Jahrhundert ein Luxusprodukt

Corona verstärkte den Boom dieser Art von Gastronomie, in der es vor allem schnell gehen muss. Und hat Speisekarten, die zum Verweilen einladen, zum Prestigeobjekt gemacht, das sich nicht mehr jeder leistet. Zurück zu den Wurzeln, könnte man sagen, denn als man in Frankreich Mitte des 18. Jahrhunderts die ersten Speisekarten aus Papier herstellte, galten sie als Luxusprodukt der gehobenen Gastronomie. Im Laufe des 19. Jahrhunderts konkurrierten sich Restaurants miteinander, indem sie ihre Karten mit formschönen und oftmals humoristischen Grafiken schmückten.

Ein neuer Bildband des Taschen-Verlags widmet sich diesen historischen Sammlerstücken. «Menu Design in Europe» zeigt Karten aus den Jahren 1800 bis 2000. Viele von ihnen sind im Art-déco- oder Jugendstil gehalten oder von viktorianischen Stilen inspiriert, zeigen weibliche Körper, abstrakte Muster oder ausgelassene Bar-Szenen. Es grenzt an ein Wunder, dass diese Einladungen ins Schlaraffenland keine Fettflecken, Weinränder und Brandlöcher davongetragen haben. Denn die Zeiten, aus der viele von ihnen stammen, müssen wild und ausschweifend gewesen sein.

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