Exklusiver Vorabdruck aus der neuen Dürrenmatt-Biografie – die Ehe mit Lotti Geissler
Ein Künstlerpaar nippt am Bohème-Leben

Exklusiver Vorabdruck aus der neuen Biografie über den grossen Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921–1990). Teil 3: Die Ehe mit Lotti Geissler.
Publiziert: 15.09.2020 um 23:07 Uhr
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Aktualisiert: 17.09.2020 um 22:20 Uhr
Die Schauspielerin Lotti Geissler (1919–1983), Friedrich Dürrenmatts spätere Frau, Anfang der 1940er-Jahre. Lotti Geissler kommt aus zerrütteten Familienverhältnissen. Ihre Mutter, Cécile Falb, geschiedene Geissler, hat sich von ihrem gewalttätigen Mann scheiden lassen, unter dem auch Lotti sehr gelitten hat.
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Am Anfang der Beziehung von Friedrich Dürrenmatt und Lotti Geissler steht eine unappetitliche Wurstgeschichte: Mitte der 1940er-Jahre trifft der Philosophiestudent in Bern auf die Schwester seines Kommilitonen Ulrich Geissler und erzählt der Schauspielerin von einem Mann, der seine Frau umgebracht hatte, sie verwurstete und die Würste verkaufte.

«Ich fand diese Geschichte abscheulich», sagt sie später, «und ich bat meinen Bruder, mir mit diesem Menschen nie mehr unter die Augen zu treten.» Dürrenmatt bleibt hartnäckig – und am 11. Oktober 1946 heiraten sie. 1947 kommt Sohn Peter zur Welt, 1949 und 1951 folgen die Töchter Barbara und Ruth.

Zweite Ehe mit Charlotte Kerr

Knapp 64-jährig stirbt Dürrenmatts Frau 1983 überraschend an einem Herzstillstand «Was zurückblieb, war kristallisierte Erinnerung: eine Frau und ein Mann, die sich einmal geliebt hatten und die nun Vergangenheit waren», schreibt Dürrenmatt 1990 in «Turmbau».

Schriftstellerfrauen

Joe Castleman bekommt den Literaturnobelpreis. «Joe, bitte bedanke dich nicht bei mir in der Rede», sagt ihm seine Frau. «Ich möchte nicht als leidende Ehefrau in Erinnerung bleiben.» Dieser Dialog aus dem Spielfilm «The Wife» (2017) spiegelt das Schicksal mancher Frau an der Seite eines Schriftstellers wider. Einige Ehen zerbrechen an der Geltungssucht des Dichters. So heirateten die beiden Architekten Max Frisch und Gertrude von Meyenburg 1942 auf Augenhöhe, doch 1959 liess sich der Grossschriftsteller von seiner Frau scheiden. Manche Ehe wie die zwischen der Japanerin Atsuko Kanto und Adolf Muschg scheinen stabiler zu sein. Und manchmal übersteigt der Ruhm der Gattin sogar den des Schriftstellers – so bei Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga und Lukas Hartmann. Daniel Arnet

Joe Castleman bekommt den Literaturnobelpreis. «Joe, bitte bedanke dich nicht bei mir in der Rede», sagt ihm seine Frau. «Ich möchte nicht als leidende Ehefrau in Erinnerung bleiben.» Dieser Dialog aus dem Spielfilm «The Wife» (2017) spiegelt das Schicksal mancher Frau an der Seite eines Schriftstellers wider. Einige Ehen zerbrechen an der Geltungssucht des Dichters. So heirateten die beiden Architekten Max Frisch und Gertrude von Meyenburg 1942 auf Augenhöhe, doch 1959 liess sich der Grossschriftsteller von seiner Frau scheiden. Manche Ehe wie die zwischen der Japanerin Atsuko Kanto und Adolf Muschg scheinen stabiler zu sein. Und manchmal übersteigt der Ruhm der Gattin sogar den des Schriftstellers – so bei Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga und Lukas Hartmann. Daniel Arnet

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1984 heiratet er ein zweites Mal: die streitbare deutsche Schauspielerin Charlotte Kerr (1927–2011). Nach deren Tod tauchen unverhofft Briefe des Schriftstellers an seine erste Frau Lotti auf. «Sie galten lange Zeit als vernichtet», sagt Biograf Ulrich Weber. «Sie geben berührende Einblicke in die Beziehung der beiden.» Hier beschreibt Weber die ersten Jahre des jungen Paars.

Vorabdruck: Künstler-Ehepaar
nippt am Bohème-Leben

Wer war die Frau, die so unvermittelt in Dürrenmatts Leben auftauchte? Lotti war zwei Jahre älter als Fritz. Ihr Grossvater mütterlicherseits, Johann Falb, war ein Schweizer Original, das nach langen Jahren in Frankreich mit seiner Frau Barbara im Berner Länggass-Viertel lebte, eine Schreinerei und einen Altwarenhandel betrieb und am Seidenweg ein Mehrfamilienhaus baute, das heute noch im Besitz der Familie Dürrenmatt ist. Lottis Mutter Cécile Falb war eine lebensfreudige, unkonventionelle, musikalisch begabte Frau. Früh von ihrem gewalttätigen Ehemann Karl Geissler geschieden, verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Hausiererin (sie vertrieb Staubsauger). Der Ehe entstammen die drei Kinder Verena (Vreni), Lotte (Lotti) und Ulrich (Ueli).

Lotti hatte in Bern Schauspielunterricht genommen. Bereits als Siebzehnjährige hatte sie 1937 ihr Filmdebut in der Titelrolle des rührseligen Heimatfilms «S'Vreneli vom Thunersee» gegeben. Damals hatte die junge Frau durchaus so etwas wie Glamourstatus besessen: Ihr Bild als Vreneli zierte etwa das Titelblatt der grossformatigen «Zürcher Illustrierten» vom 22. Januar 1937, und im Magazin «Föhn» erschien im Oktober 1937 – illustriert mit Fotos, die Lotti beim Dreh in den Schweizer Bergen und im Badeanzug am Adriastrand zeigen – ein Porträt: «Lotti Geisslers bester Film – Der jüngste schweizerische Filmstar erzählt Jugendgeschichten».

Mit dem Chauffeur zum Operndirektor

Sie berichtete von der Ablehnung ihrer Theaterpläne durch die Eltern, und wie sie diesen heimlich doch frönen konnte bei einem Onkel und einer Tante in Frankreich, die «etwas ausserhalb Lyons auf ihrem prunkvollen Sitz ein gastfreies Haus führen. Um meine Theaterpläne zu vergessen, durfte ich mit meiner Nichte fliegen lernen. Mir wurde ein Auto mit Chauffeur zur Verfügung gestellt und das Schönste von allem, ich durfte das Opern- und Konzertabonnement meiner Tante absitzen. Bei meiner Tante verkehrten auch Herr Ministerpräsident [Pierre] Laval und Herr [vermutlich Auguste] Lumière, der Grosspapa des Films. Ich war also in guter Gesellschaft. […] Aber trotz allem, meine Theaterpläne wollten nicht einschlafen. Und so fuhr ich denn mit dem Chauffeur bei Lyons Operndirektor vor und erklärte ihm kurz und bündig, dass ich statieren wolle. […] Das tat ich ja: bald als Aegypterin in ‹Aida›, bald als deutscher Knappe im ‹Lohengrin› oder ‹Tannhäuser›!»

In Nazi-Deutschland unerwünscht

Kurz vor Kriegsbeginn ging Lotti nach Berlin, wo sie die ehemalige Max-Reinhardt-Schule im Deutschen Theater unter der Leitung von Heinz Hilpert besuchte. Dann kam sie in die Schweiz zurück und spielte in Bern und Zürich auf Variété-Bühnen, u. a. mit dem populären Schweizer Film-, Revue- und Operettenschauspieler Fredy Scheim. Es folgte ihr erstes wirkliches Theaterengagement – in Würzburg an der Mainfränkischen Gaubühne.

In dieser Zeit verlobte sie sich mit dem elsässischen Schauspieler und Kabarettisten Germain Muller, nach Nazi-Kriterien ein Halbjude, dessen Eltern deportiert wurden. Er tauchte unter, floh – wohl mit Lottis Hilfe – in die Schweiz und ging von da aus in die französische Résistance. «Eines Tages wurde [Lotti] auf das deutsche Konsulat in Bern gerufen und dort teilte man ihr mit, sie könne nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Sollte sie deutschen Boden betreten, müsste man sie sogleich verhaften und in ein Lager stecken. Die Deutschen hatten wohl dies oder jenes in Erfahrung gebracht, auch dass sie nicht unbeteiligt war an dem Transport von Waffen nach Genf, die dann auf Umwegen in die Hände der französischen Widerstandsbewegung gelangten», mutmasst Curt Riess am 31. Mai 1963 in einem Lotti gewidmeten «Weltwoche»-Porträt. Es ist kaum möglich, sich ein differenziertes Bild von Lottis politischer Haltung zu machen, war sie damals doch auch eng mit dem Dramatiker Eduard Liehburg verbunden, der deutliche Nazi-Sympathien hegte.

Ehe in prekären Verhältnissen

Lotti wagte nun also die Ehe mit einem gescheiterten Studenten, der seinerseits nur sein Potenzial als Schriftsteller und seine Entschlossenheit in die Waagschale werfen konnte. – Dass das Künstler-Ehepaar nicht in einer aussichtslosen Bohème-Existenz stranden würde, war alles andere als selbstverständlich.

Fritz war wohl der Einzige, der unbedingt an seinen Weg als Schriftsteller glaubte. Und Lotti war trotz der frühen Erfolge offenbar in ihren Jahren als Schauspielerin nicht gerade als herausragendes Talent aufgefallen. Ihr Engagement am Basler Theater – sie spielte kleine Rollen in Stücken von Rostand, Claudel, Brecht und Lorca – hatte denn auch einen sehr bescheidenen Umfang.

Die Lage war prekär: Das Paar war auch auf das Einkommen von Fritz als Schriftsteller und Dramatiker angewiesen. Der Zeitungsabdruck der Erzählung «Das Bild des Sisyphos» im Januar 1947 brachte etwas Geld ein. Auch die frühe Erzählung «Die Stadt» überarbeitete Dürrenmatt, ohne sie jedoch vorerst zu publizieren. Vor allem schrieb er für die Berner Zeitschrift «Die Nation» Theaterkritiken von Aufführungen am Stadttheater Basel und ging auch sonst oft ins Theater. So eignete er sich nun allmählich die Kenntnisse des Theaters an, die ihm bis dahin noch weitgehend gefehlt hatten.

Ansonsten genossen die Dürrenmatts das Stadtleben, waren abends oft im nahen Restaurant Kunsthalle zu finden, einem Treffpunkt von Künstlern, Schriftstellern und Schauspielern direkt neben dem Theater.

Ulrich Weber, «Friedrich Dürrenmatt – eine Biografie», mit Bildteil, Erscheinungstermin: 23. September 2020

©2020 by Diogenes-Verlag AG Zürich

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