Sie fragen, EPFL-Chef Martin Vetterli antwortet
Was versteht die ETH unter «wissenschaftlichem Konsens»?

Alle zwei Wochen stellen sich die ETH-Präsidenten den Fragen der Leserinnen und Leser rund um die Wissenschaft. Heute ist Martin Vetterli, Präsident der EPFL in Lausanne und Professor für Informatik, dran. Er schreibt über die Bedeutung des wissenschaftlichen Konsens.
Publiziert: 20.04.2022 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 16.04.2022 um 17:55 Uhr
Martin Vetterli

Was versteht die ETH unter wissenschaftlichem Konsens und welchen Bezug hat ein solcher zur Wahrheit?

Martin Vetterli: Der Begriff wissenschaftlicher Konsens ist älter als die meisten Nationen und gilt weltweit, nicht nur für die ETHs. Er ist das Resultat der Geschichte, und zugrunde liegt die Idee der Wahrheit. Ein abstraktes Konzept, dessen Existenz zu den ältesten Fragen der Philosophie gehört.

Gibt es eine absolute Wahrheit? Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht einmal, ob alle Dinge, die wir erkennen, bloss Erfahrungen unsererseits sind. Und durch unsere Wahrnehmung sogar miterschaffen werden. Doch mit einem solch abstrakten Konzept lässt es sich als technische Hochschule schwer arbeiten. In unserem Alltag gehen wir also davon aus, dass es so etwas wie eine Wahrheit gibt (oder besser einer Annäherung dessen). Und die Aufgabe unserer Forschenden besteht darin, diese Wahrheiten aufzudecken und sie in verfügbares Wissen zu verwandeln. Doch wie?

Forschende haben im Laufe der Geschichte mehrere Möglichkeiten probiert, um solche Wahrheiten aufzudecken. Im Mittelalter verglichen sie den Himmel, die Pflanzen und den menschlichen Körper miteinander, um allgemeine Muster zu finden. Andere wiederum suchten Entdeckungen in den religiösen Schriften. Und wieder andere ganz unabhängig der äusseren Wahrnehmung, durch reines Nachdenken.

Was jedoch zu dem modernen Erfolg der heutigen Wissenschaft geführt hat, ist die sogenannte wissenschaftliche Methode. Sie beruht darauf, dass man zunächst eine Hypothese darüber aufstellt, wie eine Wahrheit aussehen könnte. Diese Hypothese wird dann mit Experimenten an der realen Welt getestet (genau deshalb brauchen wir an den ETHs Experimente, egal ob in Physik oder Medizin). Decken sich Experimente mit der Hypothese, so kann man von einer annähernden Wahrheit sprechen.

Die moderne Wissenschaft ist demnach ein iterativer Prozess, der sich immer mehr der Wahrheit annähert, mit dem Ziel, eine Wahrheit mehr und mehr zu erhärten und die Unsicherheit darüber zu verringern. Manchmal werden Hypothesen aber auch durch gegenteilige Experimente komplett über den Haufen geworfen. Auch das gehört zum Spiel.

Ein sehr schönes Beispiel ist die Beschreibung unseres Sonnensystems. Ursprünglich glaubte die Menschheit, dass die Erde im Mittelpunkt stünde (und hatte auch Experimente dafür). Dann fanden Galileo und Kopernikus Beweise für ein System mit der Sonne im Zentrum. Und sie zeigten, dass sich die Planeten kreisförmig um die Sonne bewegten. Dann kamen Kepler und Newton und fanden die Laufbahnen auf Ellipsen, nicht Kreisen. Und so weiter. Man sieht schön, wie sich die Beschreibung im Laufe der Zeit immer verfeinerte, durch Experimente gestützt.

Garantiert diese Methode eine absolute Wahrheit? Definitiv nicht. Sie führt lediglich dazu, dass die Forschenden, die die besten Argumente haben, andere überzeugen können – und letztlich die Gesellschaft. Und dies führt dann langsam, aber sicher zum wissenschaftlichen Konsens. Der Konsens gilt aber immer nur für den aktuellen Stand der Dinge, und er verändert sich ständig. Genau das hebt die moderne Wissenschaft von etwas starreren Gedankengütern wie den Religionen oder manchmal auch der Politik ab. Oder um es in den Worten des berühmten Wissenschaftsphilosophen Paul Feyerabend zu sagen: «Die Wissenschaft ist im Wesentlichen ein anarchisches Unternehmen.»

Martin Vetterli über «wissenschaftlichen Konsens», die absolute Wahrheit und laufende Forschungen.
Foto: imago images/Arnulf Hettrich
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