Schriftsteller Pedro Lenz zum Turnier in Katar
Warum ich trotz allem Fussball-WM schaue

Er findet es unentschuldbar, dass die Fifa die Fussball-WM an ein Land wie Katar vergeben hat. Und doch: Könnte er die WM 2022 nicht mitverfolgen, fehlte Fussballfan Pedro Lenz «ein Anker im Herzen».
Publiziert: 20.11.2022 um 09:09 Uhr

Es gäbe gute Gründe, die Fussball-WM in Katar zu boykottieren. Und fände dort eine Weltmeisterschaft im Rollhockey oder im Wasserball statt, ich würde den Boykott glatt durchzuziehen. Aber die Teams in Katar spielen Fussball. Und es sind nicht irgendwelche Teams, sondern die weltbesten. Es ist mir unmöglich, so zu tun, als könnte ich darauf verzichten.

Seit ich denken kann, ist Fussball ein Magnet, der mich unwiderstehlich anzieht. Es müssen nicht zwingend Spiele mit Lionel Messi oder Luca Modric sein, es kann auch der FC Olten gegen den SC Fulenbach in der regionalen Zweitliga auflaufen. Wenn ich Fussball schaue, bin ich ein anderer Mensch, dann spüre ich das Herz des kleinen Buben, der ich einmal war. Ich sehe Spielfeld und Ball, und alles scheint mir möglich. Jedes Zuspiel, jeder Laufweg, jedes Tackling, jeder Torschuss ist denkbar. Es kann viel oder wenig passieren. Aber ganz gleich, was passiert, ich will es miterleben.

Mir wird warm ums Herz, wenn ein Spielmacher den Rhythmus wechselt, wenn eine Körpertäuschung den Raum öffnet, wenn ein Torwart den Winkel perfekt verkürzt und dennoch von einem sanften Heber überspielt wird.

Seit Pedro Lenz denken kann, ist Fussball ein Magnet, der ihn unwiderstehlich anzieht.
Foto: Gerry Nitsch

Seit dem Turnier von 1970 verfolge ich die Fussball-Weltmeisterschaft. Will ein Freund mich fragen, ob ich die Schwalbe vom Final in München 1974 noch im Kopf habe, muss er nur «Hölzenbein» sagen, und schon sehe ich den deutschen Stürmer durch die Luft segeln. Erwähnt jemand César Luis Menotti, rieche ich die zwei Schachteln Zigaretten, die der geniale Coach der Argentinier 1978 pro Match auf der Trainerbank geraucht hat. Ich weine mit Socrates und Zico, wenn ich an das Ausscheiden Brasiliens 1982 denke. Das Herz steht mir still, wenn ich den unsterblichen Diego Armando Maradona 1986 im Aztekenstadion von Mexico City vor mir sehe. Noch schüttelt mich der Ekel, wenn ich an Frank Rijkaard denke, wie er 1990 in die Dauerwelle des Topstürmers Rudi Völler gespuckt hat. Bis heute fühle ich die Freude von 1994 bei der Erinnerung an Georges Bregys Freistoss in Detroit. Vier Jahre später stand ich inmitten von Französinnen und Franzosen auf einem Platz in Lourdes, als Zinédine Zidane die Bleus zum ersten Weltmeistertitel köpfelte. Es folgte das Drama von Oliver Kahn 2002, als er nach einem hervorragenden Turnier ausgerechnet im Final gegen Brasilien floppte. Denke ich an die Schweizer Siege gegen Togo und Südkorea von 2006, vergesse ich beinahe das lamentable Penaltyschiessen gegen die Ukraine, in dem unsere Nati keinen einzigen Ball ins Tor brachte. Vier Jahre später führte der melancholische Schnauzträger Vicente del Bosque die Spanier zum Turniersieg. 2014 kannten die Deutschen gegen Gastgeber Brasilien keine Gnade. Sie demütigten den Rekordweltmeister mit 7:1. Vor vier Jahren, im erst heute verpönten Russland, gewann Frankreich mit dem aufstrebenden Kylian Mbappé den Final gegen das Überraschungsteam aus Kroatien.

Seit früher Kindheit denke und fühle ich in Vierjahreszyklen. Könnte ich die WM 2022 in Katar nicht mitverfolgen, fehlte mir ein Anker im Herzen. Es ist unentschuldbar, dass die Fifa die Fussball-WM an ein Land wie Katar vergeben hat. Aber sehen will ich die Matches trotzdem.

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