Offener Brief in die Ukraine
Melde dich, Serhij! Schreib, wenn du kannst!

Dass Pedro Lenz und Raphael Urweider die Ukraine kennen und lieben lernten, verdanken sie nicht zuletzt Serhij Zhadan. Er hat ihren Blick für das Land auf unzähligen gemeinsamen Reisen geschärft.
Publiziert: 27.02.2022 um 15:00 Uhr

Lieber Serhij

Es ist bereits mehr als zehn Jahre her, dass wir erstmals mit dir und Juri Andruchowytsch auf Lesereise in der Ukraine waren. Die Reise mit euch war kein gewöhnlicher Kulturaustausch, sondern ein unvergessliches Abenteuer, eine von Improvisation und Neugierde angetriebene Fahrt in eine uns bis da unbekannte Welt. Ihr habt uns eure Ukraine gezeigt, vom Westen bis zum Osten. Ihr habt uns in prall gefüllten Theatern und Hörsälen mit auf die Bühne genommen. Ihr seid mit uns in Nachtzügen durch die unendlichen Weiten eures fruchtbaren Landes gefahren. Ihr habt uns zum friedlichen Pistolenschiessen in einen Wald überredet, in dem eure Vorfahren seinerzeit gegen Hitlers Invasion gekämpft hatten. Noch immer gehen Schatzsuchende mit Metalldetektoren dort durchs Unterholz und finden Jackenknöpfe und Bajonette aus dem letzten sinnlosen Krieg.

Ihr habt uns in Kiew den Cognac aus der Krim ausgeschenkt, und es stand ausser Frage, dass es ein ukrainischer Cognac war. In Iwano-Frankiwsk hat uns Andruchowytsch die Kneipen seiner Jugend gezeigt. Und in Charkiw, der Stadt deiner Studienjahre, hast du uns über den grössten Platz Europas geführt, wo damals noch der zwanzig Meter hohe Lenin stand.

Pedro Lenz (r.) und Raphael Urweider sind in Sorge um ihren Freund Serhij Zhadan.
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Mit dir und Juri zu reisen, hat unseren Blick auf die Ukraine geschärft, er hat unsere Herzen für dieses offene und gastfreundliche Land geweitet. Von Charkiw bis Lemberg haben die Leute euch auf der Strasse angesprochen, weil ihr als Dichter in der Ukraine ein hohes Ansehen geniesst. Ihr habt die Säle gefüllt wie bei uns Popstars, und wir schrien begeistert ins Publikum, wir wollten im nächsten Leben als ukrainische Dichter wiedergeboren werden.

Wo immer wir waren, in Kneipen, Theatern oder zu viert im Schlafwagenabteil, wir waren nie alleine.

In Czernowitz haben wir Paul Celan gedacht und in Odessa sassen wir rauchend und grübelnd auf der berühmten Treppe aus dem Kultfilm «Panzerkreuzer Potemkin». Seither haben wir uns immer wieder getroffen, in der Schweiz, in der Ukraine oder irgendwo dazwischen. Wir hatten gemeinsame Projekte und gemeinsame Interessen, und auch wenn wir uns selten suchten, haben wir uns immer wieder gefunden.

Dann kam der Krieg, Serhij, 2014, und du warst unermüdlich an der Front, nicht mit Waffen, nein, mit Worten, und hast damit die Kämpfenden unterstützt, die Toten beim Namen genannt und wolltest uns im Westen daran erinnern, dass Krieg herrscht.

Wir haben nicht zugehört, oder zu wenig.

Wir hoffen, dass du jetzt nicht alleine bist. Alleine gelassen wie alle in deinem Land.

Wir haben bei unseren Begegnungen immer über alles Mögliche geredet, alltägliche Sorgen normaler Menschen wie du und wir, nur nicht über die Möglichkeit, dass die Existenzberechtigung eures grossen und grossartigen Landes auf einmal auf derart brutale Weise infrage gestellt werden könnte.

Jetzt machen wir uns Sorgen um euch und eure Frauen und Kinder, um Juris Grosskinder und um eure Freunde und Kollegen, um alle, die wir auf unseren Reisen kennen- und schätzen gelernt haben. Wie geht es euch? Wie geht es Jurko Prochasko, unserem ukrainischen Übersetzer? Was können wir tun für euch, ihr grossen europäischen Schriftsteller?

Melde dich Serhij, schreib uns, wenn du kannst.

Herzlich, deine dich schätzenden Kollegen,

Pedro Lenz und Raphael Urweider

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