Gastkommentar
Behindert?

Liun hat allen die Augen geöffnet
Publiziert: 18.08.2019 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 18.08.2019 um 14:33 Uhr
Liun lässt sich das Fondue auf dem Ätna schmecken.
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Linard Bardill

«Liun, unser Sohn mit Trisomie 21, spielt oft am Brunnen vor dem Haus. Ich brauchte sieben Jahre, bis ich die Gnade fand, ihn zu fragen, was er denn eigentlich mit dem Wasser und der Brunnenröhre so mache? Er sagte: ‹Rägeboge›, was mich zur weiteren Frage brachte, wer hier ­eigentlich behindert ist. Er oder ich.

Nik Hartmann wandert fürs Fernsehen mit sechs Downies durch die Schweiz. Eine schöne Idee.
Als unser Downie mit dem Namen Liun auf die Welt kam, war der Schock gross. Es gab damals noch nicht die Möglichkeit, in der zwölften Schwangerschaftswoche einen einfachen Bluttest zu machen und den Jungen abzutreiben. Dafür durfte man noch eher mongoloid sagen. Heute – politisch korrekt – sagt man: ein Mensch mit Downsyndrom, weil die Mongolen bei der WHO interveniert hatten und die Bezeichnung mongoloid abgeschafft und mit dem Namen des Herrn Down ersetzt wurde, dem ‹Erfinder› dieser sogenannten Krankheit.

Warum haben gerade wir so ein Kind?

Unser Freund Walti sagte: ‹Jo denn hets dä jetz grad bruucht.› Ich hatte nicht verstanden, was er damit meinte, war voller Zweifel und Fragen: Warum haben gerade wir ein solches Kind? Ich hatte doch immer versucht, ein anständiges Leben zu führen, schöne Lieder zu singen, blöden Politikern ans Bein zu pinkeln, und meine Frau ist auch eine flotte!! Marlene, die Kinderärztin sagte nur: ‹Habt ihn einfach lieb, alles andere lernt ihr gemeinsam.›
Irgendwie kamen meine Frau und ich und alle anderen wieder aus dem Loch heraus und heute oder schon bald war sicher: Liun ist eines der grossen Geschenke des Lebens an mich, an uns, und an die Welt.
Er war früher mein kleiner Buddha, dann wurde er mein kleiner Mann, und heute ist er Liun, unser Sohn, der bald erwachsen ist. Da­rüber hinaus ein Meister, der mir das Leben beibrachte, eine andere Zeit, Gelebtes nun, ein Regenbogen-Mensch.

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Könnte es sein, dass die Behinderten diejenigen sind, die uns aufzeigen, wie man leben könnte?

Alle, die das Gefühl haben, man müsse diese Menschen therapieren, mit Musik oder Logopädie oder sonst irgendeiner guten Tat, die möchte ich fragen, könnte es sein, dass umgekehrt auch gefahren wäre? Könnte es sein, dass die Behinderten diejenigen sind, die uns aufzeigen, wie man leben könnte, ohne die Welt an die Wand zu fahren, sei es mit Krieg oder Klimazerstörung, Gift oder dem Wahn des Geldes? Wenn ja, dann müssten wir den Begriff ‹behindert› sofort anders interpretieren. Die Behinderten wären dann höchstens behindert, weil wir sie daran hindern, unsere Vorbilder, unsere kleinen oder grossen Meister zu sein.

Als wir Liun letzten Herbst fragten, wohin er in den Herbstferien gehen möchte, sagte er wie aus der Pistole geschossen: ‹Ätna, Fondue kochen.› Wir entschieden uns für den Vulkan und das Fondue. Es wurde eine abenteuerliche Reise mit einem alten Gamellen-Deckel als Caquelon, einem Brenner mit blauer Paste und zwölf Sonnencremedöschen voller Moitié-moitié-Fondue. Eine Alufolien-Portion von dem Zeug hätte in der Personenkontrolle in Mailand wohl wie Sprengpaste ausgesehen.

Ob je in der Menschheitsgeschichte auf 2880 Meter ein «Fondue mit Downsyndrom» gegessen wurde, wissen wir nicht. Für uns war es schliesslich ein Guinnessbuch-Rekord-Mittagessen.

Während die Vulkantouristen mit ihren Unimog-Wüstenbussen den Krater hochkraxelten, genossen wir geschmolzenen Vacherin und Greyerzer im schwefligen Nebel auf Europas aktivstem Vulkan.
Die nächste Reise, das nächste Abenteuer kommt bald. Wir sind gespannt.»

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