Gastbeitrag von Historiker Sacha Zala
«Die Neutralität hat eine fast religiöse Bedeutung erhalten»

Für Sacha Zala (54), Professor für Schweizer Geschichte an der Universität Bern, ist die Neutralität so schwammig, dass alle hinter ihr stehen können. Er nimmt Stellung zur These: Die Schweiz ist neutral, weil es gut für das Geschäft ist.
Publiziert: 30.07.2023 um 20:45 Uhr
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Aktualisiert: 31.07.2023 um 01:15 Uhr
Sacha Zala

Tatsächlich war in der alten Eidgenossenschaft die Neutralität ein einträgliches Geschäftsmodell. Schweizer Söldner konnten in Fremden Diensten bei allen Kriegsparteien Geld verdienen. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand mit dem Völkerbund ein System der kollektiven Sicherheit, dem sich die Schweiz anschloss. Sie torpedierte dieses dann aber mit ihrer Weigerung 1938, Sanktionen gegen Mussolinis Äthiopienkrieg mitzutragen.

Kampf um die Neutralität

Wie steht es um die neutrale Schweiz? Hat Sie eine Zukunft? Oder ist sie eine Selbstlüge? Die Neutralität steht heute zur Debatte, wie schon lange nicht mehr. Zum 1. August formuliert Blick vier Thesen zu Zukunft und Vergangenheit dieses Pfeilers der Schweizer Identität – und lässt vier Schweizer Persönlichkeiten darauf antworten.

Wie steht es um die neutrale Schweiz? Hat Sie eine Zukunft? Oder ist sie eine Selbstlüge? Die Neutralität steht heute zur Debatte, wie schon lange nicht mehr. Zum 1. August formuliert Blick vier Thesen zu Zukunft und Vergangenheit dieses Pfeilers der Schweizer Identität – und lässt vier Schweizer Persönlichkeiten darauf antworten.

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Im Kalten Krieg wollte die Schweiz nicht der Uno beitreten, obschon das Veto der Grossmächte Sanktionen weitgehend verhinderte. Aber im Fall der Sanktionen gegen Südafrika ermöglichte das Abseitsstehen einigen sehr profitable Goldgeschäfte – und schuf das miserable Bild des geldgierigen Schweizer Bankers, welches in etlichen James-Bond-Filmen widerhallt.

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Die Sache ist derart schwammig, dass totaler Konsens möglich ist.
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Vor Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine bekannten sich 97% der Stimmberechtigten zur Neutralität. Wenn in einer Demokratie solch plebiszitäre Zustände herrschen, kann dies nur bedeuten: Die Sache ist derart schwammig, dass totaler Konsens möglich ist. Oder sie hat eine fast religiöse Bedeutung erhalten, weil sie den magischen Schutzschild für die Unversehrtheit des Landes in zwei Weltkriegen vermeintlich erklärt.

Sacha Zala, Professor für Schweizer und Neueste Geschichte, schreibt in einem Gastbeitrag zum Thema Neutralität.
Foto: Foto: Colin Frei / Aargauer Zeitung
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Weil es in der Schweiz kaum je Konsens über die Ausrichtung der Aussenpolitik gab, hat man diese mit der Neutralität neutralisiert.
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Mit einer solchen hohen Zustimmung kann bestimmt keine einzige These die Neutralität allein erklären. Tatsächlich erfüllt die Neutralität viele Zwecke: sie ist in einem sprachlich und kulturell stark zergliederten Land die grundlegende ideologische Klammer für den Zusammenhalt. Und weil es in der Schweiz kaum je Konsens über die Ausrichtung der Aussenpolitik gab, hat man diese mit der Neutralität schlichtweg neutralisiert. In der Geschichte waren die meisten Staaten in den meisten Konflikten neutral. Wenn sie aber bedroht wurden, schlossen sie sich einer Allianz an: so geschehen 1949 mit dem neutralen Belgien (in zwei Weltkriegen von Deutschland besetzt) oder heute mit den neutralen Finnland und Schweden, die Russland vor der Haustüre haben.

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