Nach Unfall im Tunnel
«Jetzt flicken wir den Gotthard»

Bis nächstes Jahr bleibt eine der beiden Gotthardröhren gesperrt. Waren die Kontrollen bei den Güterzügen zu lasch? Nein, sagt der oberste Verkehrsbeamte Peter Füglistaler.
Publiziert: 27.08.2023 um 00:11 Uhr
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Raphael RauchBundeshausredaktor

SonntagsBlick: Herr Füglistaler, wer hat die Verantwortung für den Unfall im Gotthardtunnel?
Peter Füglistaler: Das Gesetz ist klar: der Frachtführer – und das war beim Unfallzug im Gotthard die SBB Cargo. Sie ist für den sicheren Betrieb verantwortlich und muss die entsprechenden Vorkehrungen treffen. SBB Cargo muss die Wagen vor der Abfahrt kontrollieren und haftet.

Die Lok stammt von der Deutschen Bahn. Wer haftet, falls auch der nach dem Radbruch entgleiste Wagen aus Deutschland stammt?
Auch dann haftet SBB Cargo. Das Eisenbahn-Haftpflichtrecht stammt aus der Zeit der Staatsbahnen, als alles noch in einer Hand war. Die SBB wollten das ändern, aber daran haben die Wagenhalter kein Interesse. Sie verdienen Geld, ohne Risiken tragen zu müssen. Im Parlament gab es bislang keine Mehrheit dafür, das Eisenbahn-Haftpflichtrecht zu ändern.

Würden Sie das begrüssen?
Ja. Wenn ein Wagenhalter weiss, dass er bei einem Unfall haften muss, wird er sich stärker bemühen, seine Qualität zu erhöhen.

Der Unfall im Gotthard gibt zu reden.
Foto: Keystone
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Kontrollieren Sie als Aufsichtsbehörde zu lasch?
Wenn Sie die Unternehmen fragen, lautet die Antwort: Im Gegenteil, wir kontrollieren viel zu streng und verzögern alles. Wir haben die Zahl der Güterwagenkontrollen verdoppelt, gerade auch mit Blick auf die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels. Es ist zum Beispiel vorgekommen, dass wir die Sicherheitsbescheinigung für einen kleinen Schweizer Güterverkehrsanbieter nicht erneuert haben, weil wir Bedenken hatten.

Wenn die Kontrollen funktionieren: Warum kam es dann zum Gotthard-Unfall?
Ich verstehe den emotionalen Blick auf den Unfall. Es geht um Schweizer Eisenbahnromantik: Ausgerechnet im Gotthardtunnel, der sichersten Eisenbahnstrecke der Schweiz, ist der Unfall passiert! Das schmerzt das Schweizer Bähnlerherz zutiefst. Aber wir sollten jetzt nicht übertreiben. Warten wir den Bericht der Schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle ab. So viel wir heute wissen, ist ein sehr seltenes Unglück eingetreten, das sich nicht verhindern lässt: ein Radbruch. Das passierte in der Schweiz zuletzt vor zehn Jahren. Zwischen Gleis und Rad wirken grosse mechanische Kräfte, hier kommt es zu Abnutzung.

Eine Vollsperrung des Gotthardtunnels galt bisher als ausgeschlossen.
Murphys Gesetz ist eingetreten: Alles, was schiefgehen kann, wird auch irgendwann schiefgehen.

Wie liesse sich der Gotthardtunnel sicherer machen?
Für mich geht bei dieser Diskussion die Verhältnismässigkeit verloren. Der Gotthardtunnel ist sicher. Wenn Sie versuchen, ein solch minimales Restrisiko noch zu reduzieren, dann wird es unglaublich teuer. Das wäre die falsche Priorität.

Aus welchem Grund?
Als Bundesamt für Verkehr haben wir den Anspruch, das schweizerische Netz sicher zu machen. Wir haben zig Herausforderungen im ganzen Netz, wo wir eine höhere Wirkung erzielen können.

Was ist denn Ihr grösstes Sorgenkind?
Die Strecken im Mittelland haben einen dichten S-Bahn-, Fern- und Güterzugverkehr. Hier ist die Konfliktdichte viel höher als auf der geraden Strecke durch den Gotthard-Basistunnel. Deswegen ist meine Meinung: Jetzt flicken wir den Gotthard, machen ein neues Stahltor. Dann sieht alles so schön aus wie vorher und die Züge können wieder auf der sichersten Bahnstrecke der Schweiz fahren.

Seit Mittwoch rollen wieder Güterzüge durch eine der Gotthardröhren. Werden sie jetzt strenger kontrolliert als bisher?
Nein, ich sehe dafür keinen Grund. Der Gotthard ist sicher. Was uns die SBB nachweisen mussten, ist ein angepasstes Betriebskonzept. Aktuell kann man ja die Intervention nicht von der anderen Röhre aus machen, wenn ein Zug eine Panne hat.

Vorgeschriebene Entgleisungsdetektoren hätten verhindert, dass der Zug acht Kilometer weiterfuhr und das Gleisbett beschädigte.
Eine Entgleisung kann dadurch nicht verhindert werden. Die Schweiz hat sich jahrelang für Entgleisungsdetektoren eingesetzt, sie waren aber eine technische Sackgasse. Wir setzen nun auf die Einführung einer digitalen automatischen Kupplung. Damit fliessen auch über Güterwagen Strom und Daten und wir haben die Möglichkeit, über digitale Sensoren eine Entgleisung früher zu entdecken. Das könnte ein Lösungsweg sein, aber es wird noch mehrere Jahre dauern, bis er wirklich operativ ist.

Scheut die Güterverkehrs-Lobby davor zurück, ihre Wagen aufzurüsten?
Es geht um Hunderttausende Güterwagen in ganz Europa. Wir werden im Herbst eine Botschaft ins Parlament bringen, in der wir beantragen, dass der Bund 30 Prozent der Investitionskosten für die Umrüstung übernimmt, etwa 180 Millionen Franken. Der Kostendruck im Schienengüterverkehr ist massiv.

Die Politik fordert seit Jahrzehnten weniger Güter auf der Strasse, mehr auf der Schiene …
Das ist Theorie. Praktisch verdient im Moment niemand Geld im Schienengüterverkehr. Die deutsche DB Cargo macht Hunderte Millionen Verlust pro Jahr, SBB Cargo ist ebenfalls defizitär. Die Schweiz subventioniert die europäischen Güterzüge mit 80 Millionen pro Jahr.

Muss der Verkehr auf der Strasse teurer werden?
Dazu bräuchte es eine politische Mehrheit in Europa, die es nicht gibt. Auf europäischen Strassen sind zu viele Lastwagenlenker mit zu tiefen Löhnen unterwegs. Da fahren osteuropäische Chauffeure, die wenig bis gar nichts verdienen. Und die setzen den Massstab.

EU-Kommissions-Chefin Ursula von der Leyen spricht von einem «Green Deal». Was erwarten Sie von Brüssel?
Ein ökologisch nachhaltiger Verkehr muss auch wirtschaftlich nachhaltig sein. Mit den jetzigen Zuständen ist es schwierig, die Ökologie nachhaltig zu machen. Mobilität ist zu billig. Da bin ich fast so radikal wie die Klimajugend – und genauso chancenlos.

Zum Gotthardtunnel gehört das Versprechen, dass Rotterdam und Genua zeitlich näherrücken. Doch der Ausbau in Deutschland versagt seit Jahren. Fühlen Sie sich von Berlin verarscht?
Das ist ein Ausdruck, den ich nicht verwenden würde. Aber es ist im Moment schon sehr mühsam. Wenn wir wollen, dass die Schweizer Bahnen Erfolg haben, dann brauchen wir eine gut funktionierende Bahn in ganz Europa. Deutschland ist für die Schweiz das Schlüsselland. Die SBB können so gut sein, wie sie wollen – wenn die Deutsche Bahn nicht funktioniert, dann haben auch wir ein Problem.

Was fordern Sie von Berlin?
Es ist der Job der Geschäftsleitung der Deutschen Bahn, dass die Züge pünktlich und sicher fahren. Dafür wird sie bezahlt. Ich erwarte von der Deutschen Bahn: Macht euren Job, macht eure Züge pünktlich!

Bei der Rhätischen Bahn mussten kürzlich Züge wegen des Lokführermangels ausfallen. Verschicken Sie jetzt blaue Briefe, weil die Transportpflicht verletzt wurde?
Die Rhätische Bahn ist durch den Ausfall dermassen in ihrer Ehre gekränkt, dass sie alles unternimmt, damit das nicht nochmals passiert. Eine Verletzung der Transportpflicht sehe ich noch nicht, weil es ja wieder funktioniert. Aber bei Management-Gesprächen mit der Direktion wird das natürlich angesprochen. 

«Für Pendler ist es ein grosses Problem»
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