Pläne mit Zündstoff
Amherd-Kommission diskutiert Geheimverträge mit der Nato

Sicherheitsexperten empfehlen der Schweiz in einem noch unveröffentlichten Bericht mehr EU, mehr Nato und eine revidierte Neutralität. VBS-Chefin Viola Amherd muss mit Gegenwind von der Linken und der SVP rechnen.
Publiziert: 11.08.2024 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 11.08.2024 um 10:11 Uhr
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Raphael RauchBundeshausredaktor

Auf die Schweiz kommt eine heftige sicherheitspolitische Debatte zu. Am 29. August präsentiert das von Bundespräsidentin Viola Amherd (62) geführte Verteidigungsdepartement (VBS) den Bericht einer Studienkommission, die «Impulse für die Sicherheitspolitik der kommenden Jahre» geben soll. Von FDP-Parteichef Thierry Burkart (48) über den ehemaligen Chef der Armee, Philippe Rebord (67), bis zum ehemaligen Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger (78), diskutiert ein diverses Gremium eine Strategie, die weder der Linken noch der SVP gefallen dürfte. Denn es geht um eine engere Zusammenarbeit mit EU und Nato, eine Anpassung der Neutralitätspolitik – und geheime Absprachen mit der Nato. Doch der Reihe nach.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Sicherheitslage in Europa dramatisch verändert. Während die meisten europäischen Länder entweder über die Nato oder über die EU eine Verteidigungsallianz haben, verzichtet die Schweiz als einziges westliches Land auf eine Beistandspflicht. Wie Blick weiss, teilte die Nato der Studienkommission während eines Besuchs in Brüssel mit: Die Schweiz darf keine Sicherheitslücke bilden – schon gar nicht bei der kritischen Infrastruktur im Energie- und Zahlungsverkehr. Über welche heissen Eisen hat die Studienkommission diskutiert?

Kein Atomwaffenverbotsvertrag

Der Nato ist es ein grosses Anliegen, dass die Schweiz aus Gründen der Abschreckung den Atomwaffenverbotsvertrag nicht unterzeichnet. Gerade dieser Punkt gilt als heikel, weil die humanitäre Tradition der Schweiz verlangen würde, diesen Vertrag zu ratifizieren. Andererseits profitiert die Schweiz vom Nuklearschirm der Nato. Es wäre für die Nato-Mitglieder, die diesen Schutz im Gegensatz zur Schweiz finanzieren, «kaum nachvollziehbar, wenn sich ausgerechnet die Schweiz gegen diesen Schirm aussprechen würde», schlussfolgert die Studienkommission. «Gerade angesichts der jüngeren nuklearen Drohungen Russlands ist die nukleare Abschreckung wichtiger denn je. Eine Unterzeichnung zum jetzigen Zeitpunkt wäre ein Zeichen der Realitätsverweigerung und eine Abkehr von der westlichen Sicherheitsgemeinschaft.»

Mehr Nato wagen: VBS-Chefin Viola Amherd mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Foto: Keystone
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Mehr Nato

«Die Nato bleibt auf absehbare Zeit die sicherheitspolitische Garantin Europas. Sie ist die Messlatte für moderne, westliche Armeen und definiert die Standards für die westliche Rüstungstechnologie», hält die Studienkommission fest. «Eine Kooperation mit der Nato kann die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz stärken.» Gerade in den Bereichen Cyber, hybride Kriegsführung, Innovation und Resilienz sowie beim Thema Klimawandel und Sicherheit sei eine verstärkte Zusammenarbeit wichtig. Die Studienkommission empfiehlt keinen Nato-Beitritt, auch wenn sie dafür Sympathien hegt – schliesslich hat Russland bisher nur Nicht-Nato-Mitglieder angegriffen. 

Geheim-Absprachen mit der Nato

Wie verhält sich die Schweiz im Falle eines Angriffs auf ein Nato-Mitglied? Entweder beruft sie sich auf ihre Neutralität oder sie beteiligt sich an der Verteidigung Europas. Anstelle einer offiziellen Klärung könnten geheime Vereinbarungen getroffen werden, welche Partei sich in welchem Szenario wie verhält. Früher wurden solche Deals «Punktationen» genannt – General Guisan etwa traf 1939/40 am Bundesrat vorbei Geheim-Absprachen mit der französischen Armeespitze.

In der Schweizer Geschichte gab es immer wieder «geheime, nicht bindende Vorverträge, in denen geregelt wird, was jede Vertragspartei in jedem der angenommenen Fälle zu leisten hat». Die Studienkommission betont: «Heute könnten derartige Vereinbarungen beispielsweise die Bedrohung durch weitreichende Lenkwaffen, einen breit angelegten Cyberkrieg gegen europäische Staaten oder Luftraumverletzungen umfassen.» Allerdings hat es bislang hierzu keine Gespräche mit dem Nato-Hauptquartier gegeben; es ist deshalb offen, ob die Nato zu solchen Absprachen bereit wäre.

Mehr Übungen mit der Nato

Angesichts der Bedrohungslage ist für die Studienkommission wichtig, dass die Schweiz die gemeinsame Verteidigung nicht nur stärkt, «sondern auch ernsthaft» vorbereitet. Und das heisst auch zu üben. Es liege im neutralitätspolitischen Ermessen des Bundesrats, die Teilnahme an solchen Übungen zu genehmigen – ein Widerspruch zum Nationalrat: Dieser warnte kürzlich, dass die Teilnahme von Übungen, bei denen die Nato einen Bündnisfall trainiert, im Widerspruch mit der Schweizer Neutralität stehe.

Mehr EU und Wiederholungskurse im Ausland

Die Schweiz hat ein Beitrittsgesuch zur Europäischen Verteidigungsinnovation «HEDI» gestellt, das noch hängig ist. Die EU wiederum wünscht sich ein «Framework Participation Agreement», das Entsendungen an EU-Missionen regelt. Für eine stärkere Kooperation müssen jedoch rechtliche Grundlagen angepasst werden, vor allem in der militärischen Ausbildung. «So können etwa heute Milizangehörige der Armee nicht zu Wiederholungskursen im Ausland verpflichtet werden. Dies wäre notwendig, um auch mit Milizformationen regelmässig an gemeinsamen bilateralen und multilateralen Übungen teilzunehmen», schreibt die Studienkommission. Dies stelle das Grundprinzip der Milizarmee nicht infrage. Gemeinsame Übungen seien entscheidend, «um sich auf einen Ernstfall vorzubereiten und die Interoperabilität tatsächlich zu prüfen und zu verbessern». 

Kriegsmaterialgesetz

Das aktuelle Kriegsmaterialgesetz verbietet es, Schweizer Panzer direkt in die Ukraine zu liefern. Selbst Panzer, die vor Jahrzehnten von der Schweiz an Nato-Länder verkauft wurden, dürfen nicht an die Ukraine weitergegeben werden. Diese Praxis sorgt sowohl bei der EU als auch bei der Nato für Unverständnis: «Das Wiederausfuhrverbot wird nicht verstanden und eigentlich auch nicht mehr akzeptiert. Im Grundsatz gilt: Jede Kooperation ist ein Geben und Nehmen. Ohne Kooperation keine Verteidigungsfähigkeit, und ohne Verteidigungsfähigkeit keine Kooperation», schreibt die Studienkommission. An anderer Stelle steht: «Sicherheitspolitisch betrachtet ist die Schweiz gegenwärtig eine Trittbrettfahrerin.» Bei der Revision des Kriegsmaterialgesetzes solle der Bundesrat mehr Spielraum erhalten. Die Studienkommission ist überzeugt: Die Schweizer Rüstungsindustrie ist ohne Aus- und Einfuhr kaum überlebensfähig. 

Anpassung der Neutralitätspolitik

Amherds Experten empfehlen, die Schweizer Neutralitätspolitik zu revidieren: «Die Neutralitätspolitik soll gegenüber dem Neutralitätsrecht ein stärkeres Gewicht erhalten.» Eine Anpassung der Neutralitätspolitik würde es erlauben, die Schweizer Haltung «zu möglichen Konflikten (China–Taiwan, Russland–Nato) rechtzeitig zu formulieren und mögliche Forderungen an sie zu antizipieren.» Die im September 2022 abgebrochene Diskussion über die Anpassung der Neutralität solle rasch wieder aufgenommen werden.

Dies ist eine gute Nachricht für Aussenminister Ignazio Cassis (63), der die Schweizer Neutralität neu auslegen wollte – und im Bundesrat scheiterte. Unklar ist, was aus den Empfehlungen tatsächlich wird: Das VBS wird diese entgegennehmen und prüfen – und Linke und SVP werden alles tun, um mehr Nato, mehr EU und weniger Neutralität zu verhindern.

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