Schweizer Poker mit Brüssel
Das EU-Mandat ist ein Papiertiger

Aussenminister Ignazio Cassis war noch daran, das EU-Verhandlungsmandat zu präsentieren, da hagelte es schon Kritik. Auch der neue Anlauf für eine Lösung mit Brüssel führt ins Nirgendwo.
Publiziert: 08.03.2024 um 20:12 Uhr
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Aktualisiert: 08.03.2024 um 20:20 Uhr
Aussenminister Ignazio Cassis will nochmals mit der EU verhandeln.
Foto: keystone-sda.ch
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Sermîn FakiPolitikchefin

«In einer zunehmend instabilen Welt ist es entscheidend, stabile und sichere Beziehungen mit den Nachbarländern zu haben», warb Ignazio Cassis (62) am Freitag für die Verhandlungen mit der EU. Zuvor hatte der Bundesrat das definitive Mandat für die Bilateralen III, wie das Paket genannt wird, verabschiedet. Sobald auch die EU ihr Okay gibt, soll es losgehen.

Wobei «warb» in Bezugs auf Cassis' Auftritt übertrieben ist. Von Herzblut war nicht viel zu spüren beim Aussenminister. Man mag es ihm nicht verdenken, weiss er doch besser als jeder andere, dass das Mandat nicht mehr ist als ein Papiertiger. Cassis kann einem ebenso leid tun wie der Schweizer Chefunterhändler Patric Franzen, der noch diesen Monat nach Brüssel reisen soll, im Wissen, dass all seine Anstrengungen für die Galerie sind.

Von «Kein gangbarer Weg» bis zu «Unterwerfung»

Die nähere Anbindung der Schweiz an den EU-Binnenmarkt bleibt hochumstritten, wie SVP und Gewerkschaften bewiesen, die schon während Cassis' Medienkonferenz ihr Nein in die Welt hinausposaunten. Witterte die SVP die «totale Unterwerfung der Schweiz unter die EU», sprach der Schweizerische Gewerkschaftsbund von einem «für uns nicht gangbaren Weg».

Doch dass die Verhandlungen mit der EU zu nichts ausser Ärger führen werden, liegt weder an der SVP noch an den Gewerkschaften. Wer in den letzten Tagen Gespräche mit Fraktions- und Parteispitzen von links bis rechts führte, spürte ebenfalls keinerlei Begeisterung für das Paket des Bundesrats.

Noch schlimmer: Niemand in der Wandelhalle geht mehr davon aus, dass die Bilateralen III jemals in Kraft treten. Irgendwo, das weiss jeder, wird die Schweiz nachgeben müssen: bei den Agrarzöllen, beim Service public, beim Schiedsgericht. Hier eine Prise Salz, da eine Prise Salz – irgendwann schmeckt die Suppe niemandem mehr so richtig. Hinzu kommen noch die Kohäsionsgelder, die die Schweiz für die Teilnahme am Binnenmarkt zahlt. Je nachdem, auf welche Summe sich die Verhandler einigen, stellen auch Bürgerliche die Frage: Lohnt sich das? Profitiert die Schweizer Wirtschaft mehr vom Binnenmarkt, als all das die Schweiz kostet?

Wer soll das Paket Bilaterale III versenken?

Uneinig ist man sich in Bern eigentlich nur noch in der Frage, ob man diesmal dem Volk die Schuld in die Schuhe schieben will oder das Paket gleich selbst im Parlament versenkt. Einige plädieren dafür, dem Volk das letzte Wort zu geben – dann sei das Scheitern Brüssel einfacher zu verkaufen, nach dem Motto: «Gellet, wir wollten ja schon, aber in einer direkten Demokratie ... da kann man nichts machen.»

Andere finden, diese Strategie würde nur der SVP eine Bühne bieten – und zwar eine grosse. Die Angst: Die «Mutter aller Schlachten» zu führen, würde der Partei so viel Auftrieb geben wie 1992 Christoph Blochers (83) Kampf gegen den EWR. Wenn das EU-Paket im Sommer 2027 an die Urne komme, müsse die SVP keinen Rappen in den Wahlkampf stecken, sagen Bürgerliche wie Linke unisono. Sie haben recht.

SVP-Initiative als Damoklesschwert

Der SVP kommt im EU-Poker ohnehin eine besondere Rolle zu. Schon in wenigen Tagen dürfte sie ihre Nachhaltigkeits-Initiative einreichen – die 100'000 Unterschriften sind schon längst beisammen, wie Nationalrat Thomas Matter (57) im Februar im Blick verriet. Diese verlangt nichts weniger als die Kündigung der Personenfreizügigkeit, wenn die Schweizer Bevölkerung weiterhin so wächst. Und sie wird nicht eingereicht, wenn sie parat ist, sondern wenn es am meisten Eindruck macht – jetzt.

Auch wenn man im Aussendepartement versichert, sich davon nicht beeindrucken zu lassen: Zu verhandeln, während parallel einer der Pfeiler der bilateralen Abkommen auf Messers Schneide steht, ist einigermassen bizarr. Denn die Initiative wird die Dynamik im EU-Dossier verändern. Die Frage ist nur, in welche Richtung. Die Personenfreizügigkeit ist heute viel umstrittener als vor zehn Jahren, wo es ein Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative gab. Die neue Initiative könnte ein Damokles-Schwert sein. Oder doch noch ein Befreiungsschlag? Schliesst die Initiative die Reihen von SP bis FDP, so wie es immer ist, wenn die SVP eine Initiative bringt, die die Schweiz vom Rest der Welt abschotten will? Vielleicht ist das die einzige Chance, die die Bilateralen III haben.

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