Virologin Isabella Eckerle
«Schweizweite Maskenpflicht in Läden würde Sinn machen»

Virologin Isabella Eckerle plädiert dafür, die Maskenpflicht in den Läden schweizweit einzuführen. Und dass Bund und Kantone ihre Strategie besser aufeinander abstimmen.
Publiziert: 09.10.2020 um 22:56 Uhr
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Aktualisiert: 12.10.2020 um 21:33 Uhr
Interview: Gianna Blum

BLICK: Frau Eckerle, die täglichen Fallzahlen sind so hoch wie noch nie im Verlauf der Pandemie. Wie sehr muss uns dies Angst machen?
Isabella Eckerle: Man kann die absoluten Zahlen nicht mit dem Frühjahr vergleichen. Die Teststrategie hat sich seither geändert, und wir wissen schlicht mehr. Aber die Dynamik finde ich sehr bedenklich – es geht kontinuierlich in die falsche Richtung, auch mit Blick auf die Positivitätsrate.

Ist denn die Schweiz auf dem falschen Dampfer? Seit Anfang Oktober sind Grossveranstaltungen wieder erlaubt.
Es kommt darauf an, wo sie stattfinden. In der Westschweiz, etwa der Waadt, steuern die Labore wieder in den roten Bereich und kommen mit Testen kaum nach. Da müssen die Kantone gründlich darüber nachdenken, was sie bewilligen. Wichtiger ist aber das Verhalten der Bevölkerung. Es muss jetzt wirklich jedem klar werden, dass wir uns an einem kritischen Punkt befinden.

Sie haben kürzlich gewarnt: Wenn man Massnahmen erst ergreift, wenn wieder Menschen auf der Intensivstation liegen, sei es schon vier Wochen zu spät. Muss die Schweiz also jetzt reagieren?
Es wäre zumindest dringend notwendig, eine gemeinsame Strategie zu finden – egal, ob das nun der Bund oder die Kantone tun. Zurzeit gibt es widersprüchliche Signale, in jedem Kanton gilt anderes. Das verunsichert die Leute. Es ist wichtig, an die Bevölkerung zu appellieren, Massnahmen wie Alltagsmaske, Händewaschen und Abstand einzuhalten.

Die Ampel steht auf Orange – die Warnung des Bundesamts für Gesundheit auch: Die Schweiz verzeichnet so viele Corona-Fallzahlen wie noch nie.
Foto: Keystone
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Reichen denn Appelle? Wäre es nicht Zeit, die Schraube wieder anzuziehen?
Wir müssen realistisch sein: Gewisse Sachen werden diesen Winter nicht mehr stattfinden können, etwa grosse Feiern in Innenräumen. Zudem sollte man prüfen, einzelne der Massnahmen aus dem Frühling wieder einzuführen, etwa die Homeoffice-Empfehlung. Aus meiner Sicht würde es auch Sinn machen, die Maskenpflicht in Läden schweizweit einzuführen.

Funktioniert denn die auf Testen, Nachverfolgen und Isolieren basierende Strategie in der Schweiz noch – bei so vielen Fällen?

Die Kantone scheinen im Moment die Übersicht noch zu haben. Aber man darf nicht vergessen: Wenn die Leute sich nicht an die Massnahmen halten, kann man noch so viel testen und nachverfolgen – die Infektionszahlen steigen einfach.

Es stecken sich nach wie vor eher Jüngere an.
Es ist gefährlich anzunehmen, dass das Virus für Jüngere weniger gefährlich ist. Wir sehen zunehmend junge Patienten, die zwar nicht schwer erkranken, aber unter Langzeitfolgen leiden. Wir wissen schlicht nicht, ob es noch weitere Organschädigungen gibt. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich vermehrt auch wieder ältere Menschen anstecken und die Hospitalisierungsrate steigt. In Genf tut sie das nämlich bereits.

Wie sollte man jetzt die Risikogruppe schützen?
Das kann man nur begrenzt, denn man darf nicht vergessen, dass nicht nur alte Menschen zur Risikogruppe gehören. Schwangere, Diabetiker oder Menschen mit Vorerkrankungen gehören auch dazu – und eine berufstätige Diabetikerin mit zwei Kindern kann sich kaum abschirmen. In Altersheimen macht es aber sicher Sinn, die Testkapazitäten vor allem fürs Personal auszubauen und Besuche zu begrenzen.

Wie steht denn die Schweiz im Verhältnis zum Ausland da?
Wir sind noch nicht an einem Punkt wie etwa Südfrankreich, wo die Intensivstationen bereits voll sind, oder Paris, wo bereits starke Massnahmen umgesetzt werden. Doch der Blick in die Nachbarländer muss uns eine Warnung sein.

Die Herrin der Viren

Isabella Eckerle (40) leitet seit 2018 die Abteilung Infektionskrankheiten an den Universitätskliniken in Genf. Zuvor arbeitete sie mehrere Jahre mit dem deutschen Virologen-Star Christian Drosten (48) zusammen. In der Corona-Pandemie untersucht die Deutsche die Rolle der Kinder. Auf sie geht die Entdeckung zurück, dass Kinder genauso ansteckend sind wie Erwachsene.

Isabella Eckerle arbeitet an der Uni Genf.
Keystone

Isabella Eckerle (40) leitet seit 2018 die Abteilung Infektionskrankheiten an den Universitätskliniken in Genf. Zuvor arbeitete sie mehrere Jahre mit dem deutschen Virologen-Star Christian Drosten (48) zusammen. In der Corona-Pandemie untersucht die Deutsche die Rolle der Kinder. Auf sie geht die Entdeckung zurück, dass Kinder genauso ansteckend sind wie Erwachsene.

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Welches Land hat denn eine ähnliche Kurve wie nun die Schweiz?
Ich denke, es ist überall die gleiche Kurve, wir sind nur an einem anderen Punkt. Im Vergleich steht die Schweiz ein bisschen besser da als Frankreich und ein bisschen schlechter als Deutschland.

Was hat denn Deutschland besser gemacht?
Deutschland hat sicher davon profitiert, dass der Lockdown früh verhängt worden ist. Und Masken gehören schon seit dem Sommer zum Alltag. Ich bin es müde, dass wir in der Schweiz immer noch über Masken diskutieren. Hier würde sich der Blick nach Asien lohnen: Die Leute halten sich viel disziplinierter an die Massnahmen, nicht nur bei den Masken – und das Virus haben sie im Griff.

Und in welchem Land beurteilen Sie die Lage als besonders prekär?
Das ist schwierig zu sagen. Es sind vor allem die Ballungszentren, die mir Sorgen machen. In Spanien, Holland oder Frankreich hat man ja auch schon reagiert.

Sind wir in der zweiten Welle?
Das ist immer eine schwierige Frage, schliesslich ist das nicht definiert. Europaweit kann man aber schon sagen, dass wir am Anfang der zweiten Welle stehen.

Macht denn die Risikoliste noch Sinn, wenn doch Menschen aus Ländern in Quarantäne müssen, in denen die Fallzahlen tiefer sind als in der Schweiz?
Prinzipiell ist sie als Signal wichtig – nämlich dass jede Art von Reisen ein Infektionsrisiko und im Moment nicht angezeigt ist.

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