Neun Milliarden Gratisstunden
Die unsichtbare Arbeit

600’000 Personen betreuen einen ihnen nahestehenden Menschen. Damit stellen unbezahlte Angehörige den grössten Betreuungsdienst des Landes dar.
Publiziert: 06.11.2022 um 19:17 Uhr
Camille Kündig

Nach dem Schlaganfall ihres Ehemannes setzt Simonetta Sommaruga neue Prioritäten. Ihr Rücktritt als Bundesrätin wirft ein Schlaglicht auf einen von der Politik vernachlässigten, aber lebenswichtigen Sektor der Volkswirtschaft: Allein 2020 arbeiteten zahllose Menschen in der Schweiz neun Milliarden Stunden gratis. Sie waren da für ihre Angehörigen, pflegten sie, unterstützten sie emotional und halfen ihnen im Haushalt – sie haben geputzt und eingekauft, sich um die Kinder gekümmert. Und das alles, ohne einen einzigen Rappen dafür zu verlangen.

Würde diese sogenannte Care-Arbeit vollständig entlohnt, wäre sie der grösste Wirtschaftssektor in der Schweiz – mit einem Wert von 408 Milliarden Franken. 60 Prozent dieser unbezahlten Tätigkeiten werden von Frauen geleistet. 600'000 Betroffene kümmern sich um einen Menschen, der ihnen nahesteht – etwa den an Demenz erkrankten Vater, damit er weiter zuhause leben kann.

Blinder Fleck in der Bundespolitik

Mit Blick auf die älter werdende Gesellschaft dürfte sich die Bedeutung dieser Arbeit weiter verstärken. «Trotzdem ist die Betreuung für Erwachsene in der Bundespolitik ein blinder Fleck», sagt Valérie Borioli Sandoz, Leiterin Gleichstellungspolitik bei Travail Suisse und der Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung: «Menschen, die Care-Arbeit leisten, haben oft mit Problemen im Beruf zu hadern, später in Bezug auf ihre Rente und die eigene Gesundheit.»

In Hinblick auf die Demografie dürfte sich die Wichtigkeit von pflegenden Angehörigen verstärken.
Foto: plainpicture/Maskot
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Seit 2021 gilt das neue Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung. Pflegende Angehörige dürfen nun kurzzeitig dem Job fernbleiben, Eltern eines schwer kranken Kindes einen 14-wöchigen Urlaub beziehen.

Nur: «Das ist ein Tropfen auf dem heissen Stein», wie SP-Nationalrätin Barbara Gysi sagt. «Alle Angehörigen, die ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen oder einschränken müssen, um ein Familienmitglied zu betreuen, sollten wie im Militär- oder Zivildienst als Erwerbsersatz 80 Prozent Ihres Lohnes entschädigt bekommen.»

Flächendeckende Entlastungsangebote vonnöten

Gysi selbst kümmert sich um die Finanzen ihrer 92-jährigen Mutter – das klappt gut. Doch wer ein Familienmitglied rund um die Uhr betreuen muss, kann damit an Grenzen stossen. Borioli Sandoz: «Es braucht flächendeckende Entlastungsangebote für die unterschiedlichen Bedürfnisse aller betreuenden Angehörigen und Erholungsurlaub für all jene, die sich täglich für ihre Angehörigen einsetzen.»

Weiter gehen Feministinnen, die einen Lohn für Haus- und Familienarbeit fordern. Und eine Gruppe um den früheren Bundesratssprecher Oswald Sigg ist überzeugt, dass die unentgeltliche Betreuungsarbeit mit einem bedingungslosen Grundeinkommen aufgewertet würde. Sigg und seine Mitstreiter sammeln derzeit Unterschriften für eine Volksinitiative mit diesem Ziel. Es ist bereits der zweite Anlauf: 2016 lehnte das Stimmvolk die Vorlage «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen» klar ab.

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