Tunesier schwärmen von Schweizer Gefängnissen – Expertin stellt klar
«Freiheitsentzug wäre auch im 5-Sterne-Hotel schlimm»

Junge Tunesier zieht es in die Schweiz, auch wenn ihnen hier nur Kriminalität bleibt. Denn: Unsere Gefängnisse seien so schön. Livia Schmid, die Gefangene berät, mahnt: «Man kann erst beurteilen, was Freiheitsentzug bedeutet, wenn man ihn erlebt hat.»
Publiziert: 16.05.2024 um 19:04 Uhr
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Aktualisiert: 17.05.2024 um 10:43 Uhr
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Helena SchmidReporterin

In die Schweiz flüchten, kein Asyl erhalten, mit Dealen oder Klauen anfangen, im Gefängnis landen – was klingt wie ein gescheiterter Migrationstraum, ist in der Vorstellung manch junger Tunesier dennoch ein besseres Leben. In ihrem Heimatland leben sie ohne Perspektive. Lieber wollen sie in die «schönen Zellen» in der Schweiz. «Eure Gefängnisse sind so luxuriös», sagt der junge Coiffeur Wajdi (17) in Tunesien zu Blick.

«Schockierende Aussagen», findet Livia Schmid, Leiterin der Beratungsstelle Freiheitsentzug beim Verein humanrights.ch. «Es zeigt doch, wie quälend die Situation der Menschen dort sein muss.»

Die Fachstelle bei Humanrights bedient eine Hotline für Gefangene und deren Angehörige. «Noch nie hat uns jemand von Luxus-Zellen berichtet», sagt sie. «Im Gegenteil: Uns werden unter anderem Rassismuserfahrungen oder gar systemisch bedingte Grundrechtsverletzungen gemeldet.»

Von solchen Zellen schwärmen die Menschen in Tunesien: ein Zimmer im Vollzugszentrum Bachtel ZH.
Foto: Keystone
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Allgemein spiele die Einrichtung einer Zelle eine untergeordnete Rolle. Der Freiheitsentzug an sich sei das Belastende. «Ein Freiheitsentzug wäre auch in einem 5-Sterne-Hotel schlimm», so Livia Schmid. Sie erklärt: «In Haft wird man fremdbestimmt: wann man aufsteht, isst, wo man zur Arbeit geht, sich wäscht. Es wird kontrolliert, mit wem man telefoniert, Briefe austauscht, wer zu Besuch kommt. Was das bedeutet, kann man erst beurteilen, wenn man es erlebt hat.»

Einzelzimmer, frische Luft, Seelsorge obligatorisch

Auf Bundesebene sind in der Schweiz keine gesetzlichen Standards für die Haft festgelegt. Die Bedingungen bestimmen die Kantone. Für den Strafvollzug gelten jedoch internationale Regelungen wie die europäischen Strafvollzugsgrundsätze oder die Nelson Mandela Rules.

Letztere verbieten, das Leiden der Gefangenen wegen des Freiheitsentzugs zu verstärken, indem beispielsweise schlechte Haftbedingungen geschaffen werden. Als Mindeststandards für die Unterbringung gelten etwa genügend grosse Fenster, ständiger Zugang zur Toilette, Frischluft, Einzelzimmer zum Schlafen beziehungsweise Schlafsäle nur unter strengen Voraussetzungen. Die Gefangenen müssen die Möglichkeit haben, zu arbeiten, sich zu bilden, Sport zu treiben, mit einem Seelsorger zu sprechen.

«Wohlfühl-Knasts» auch in anderen Ländern

Diese internationalen Grundsätze gelten in den meisten anderen europäischen Ländern. Entsprechend wenig verwunderlich: Auch in Deutschland und Österreich werden Begriffe wie «Designerknast», «Knasthotel» oder «Wohlfühl-Knast» in der Debatte verwendet.

Sollten Gefängnisse nicht stärker eine abschreckende Wirkung haben? Livia Schmid von Humanrights dazu «Es gibt keine Forschung, die beweist, dass damit der Kriminalität vorgebeugt werden kann.»

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