SonntagsBlick im Gefängnis bei Boxerin Viviane Obenauf Tagliavini
«Ich möchte meinem Sohn sagen, dass ich kein böses Mami bin»

Boxerin Viviane Obenauf Tagliavini (36) sitzt in Luzern in Sicherheitshaft. Erstinstanzlich wurde sie zu 16 Jahren Knast verurteilt. Sie soll ihren Mann 2020 brutal ermordet haben. Doch das letzte Wort ist da noch lange nicht gesprochen. Das Interview aus dem Gefängnis.
Publiziert: 28.01.2023 um 23:59 Uhr
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Aktualisiert: 02.02.2023 um 11:30 Uhr
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Patrick MäderAutor Blick Sport

Acht Busminuten vom Luzerner Bahnhof entfernt, von den Touristenattraktionen Kapellbrücke und KKL, von der wunderschönen Aussicht auf See und Altstadt, liegt die Justizvollzugsanstalt Grosshof Kriens. Ein Betonklotz mit Stacheldraht eingebettet zwischen Rigi und Pilatus. Hier sitzt Viviane Obenauf Tagliavini ein. Die frühere Boxerin – Schweizermeisterin, Weltmeisterin, Mutter. Eingeschlossen in einer 13-Quadratmeter-Zelle, erstinstanzlich verurteilt wegen Mordes an ihrem Mann, einem Wirt aus Interlaken. Sie soll ihm mit einem Baseballschläger den Kopf zertrümmert haben. So urteilte das Regionalgericht Oberland am 9. Dezember 2022 in Thun. Obenauf wurde zu 16 Jahren Gefängnis verdonnert. Nach Absitzen der Strafe soll sie für weitere zwölf Jahre des Landes verwiesen werden.


In einem Besucherraum mit zwei Türen, einer Uhr, einem Tisch mit vier Stühlen und zwei Sesseln treffen wir uns zum Interviewtermin. Es ist das erste Mal seit der Tatnacht am 19. Oktober 2020, dass Viviane Obenauf Tagliavini zur Öffentlichkeit spricht.

Ich lernte die heute 36-Jährige in meiner Rolle als Sportjournalist kennen. Ich habe ihre Boxkarriere begleitet und ihre Geschichte hat mir stets imponiert. Die alleinerziehende Mutter, die sich mit verschiedenen Teilzeitjobs über Wasser hält und am Wochenende in den Ring steigt, um zu kämpfen. Ihr grösster Fight fand 2016 in Manchester statt. Im Rahmenprogramm des damaligen Champions Anthony Joshua kämpfte Obenauf gegen Olympiasiegerin Katie Taylor vor fast 30’000 Zuschauern. Die Wahlschweizerin verlor zwar nach Punkten, wehrte sich aber tapfer und bekam international sehr viel Applaus und Respekt. Ihr grösster Sieg folgte zwei Jahre später, im August 2018 gewann sie den WBA-Titelkampf in Cardiff gegen die hoch gehandelte Engländerin Natasha Jonas. Das war ein Schweizer Box-Coup für die Geschichtsbücher.

Viviane Obenauf Tagliavini kämpft im Gefängnis um ihre Unschuld und um ihre Freiheit.
Foto: Kurt Reichenbach / Schweizer Illustrierte
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Das alles spielt an diesem Sonntagmorgen am Fusse des Pilatus keine Rolle. Viviane Obenauf Tagliavini tritt frisch geduscht in den Besucherraum der JVA Grosshof. Sie trägt Privatkleider, einen dunkelblauen Pulli mit rotweissem Streifen, blaue Hosen und elegante Schuhe. Ihre Augen leuchten hinter der Brille, sie wirkt topfit und einsatzbereit, als würde sie gleich in den Ring steigen. Unter dem Arm trägt sie einen Stapel von Unterlagen. Mir ist sofort klar: Diese Frau hat nicht aufgegeben. Sie kämpft hier um ihre Freiheit, um ihren Ruf. Sie will beweisen, dass alles ganz anders war. Viviane lächelt und gibt zu: «Ich bin etwas nervös, aber gut vorbereitet. Lass uns loslegen!»

SonntagsBlick: Viviane Obenauf Tagliavini, wie sieht Ihr Alltag im Gefängnis aus?
Viviane Obenauf Tagliavini: Ich stehe jeden Morgen um 5.30 Uhr auf. Als Erstes bete ich zu Gott. Danach absolviere ich mein Training, mache Yoga und gezielte Schulterübungen. Nur am Samstag gebe ich mir trainingsfrei.

Sie trainieren in Ihrer Zelle?
Ja, die Türe geht erst um 7.30 Uhr auf. In den Räumlichkeiten, die wir gemeinsam nutzen können, hat es ein Laufband. Das gehört bei mir mit zum Training. Sobald sich die Türe öffnet, gehe ich laufen. Danach gibts Kaffee.

Wie muss man sich diese Gemeinschaftsräume vorstellen?
Am ehesten wie eine Wohngemeinschaft. Da gibt es einen Fernseher, eine Küche, ein Büro, einen Wohnraum mit einem Polstermöbel von Ikea, ein Bücherregal, einen grossen Tisch. Es gibt insgesamt acht Zimmer, verteilt auf zwei Stöcke, die von neun bis zehn Frauen belegt sind. Ich habe ein Einzelzimmer.

Verstehen Sie sich gut mit den anderen Frauen?
Ja, wir respektieren uns. Aber ich rede nicht über Persönliches mit ihnen, wir grüssen uns, reden über Alltägliches und ich habe auch schon Bibelstunden gegeben oder Pizza für alle gemacht. Wir feiern auch zusammen, wenn jemand Geburtstag hat.

Die Frauen kennen Ihre Geschichte?
Ja, aber Sie sprechen mich nicht darauf an. Das finde ich auch gut so.

Wie geht es nach dem Frühstück weiter?
Wir gehen zur Arbeit. Jeweils morgens drei Stunden und mittags drei Stunden.

Was für eine Arbeit?
Ich stecke meistens so kleine Zahnreinigungs-Sticks zusammen. Das sind Bürsteli, mit denen man die Räume zwischen den Zähnen reinigen kann. Oder man kann Couverts in dafür vorgesehene Plastiksäckchen schieben. Ich ziehe die Zahnreinigungs-Sticks vor. Auch wenn meine Fingerkuppen etwas leiden.

Wird das nicht langweilig?
Nein, zum Glück gibt es diese Arbeit. Sonst würde die Zeit hier drin still stehen.

Wie ist es mit Besuch?
Mir sind vier Stunden pro Monat erlaubt. Die kann ich verteilen. Der Besuch muss allerdings zuerst ein Gesuch stellen, das von der Gefängnisleitung bewilligt werden muss. Da wir jetzt zwei Stunden zusammensitzen, ist das schon die Hälfte von diesem Monat. Das ist wenig, aber ich freue mich jedes Mal wahnsinnig, wenn ich Besuch bekomme.

Wann wird die Zelle wieder verschlossen?
Werktags um 18.45 Uhr, am Wochenende um 17.15 Uhr. Normalerweise schlafe ich so gegen 21.00 Uhr ein.

Schlafen Sie gut?
Ich schlafe in der Regel gut, aber manchmal liege ich auch wach und bin sehr traurig.

Haben Sie Albträume?
Das Ganze hier ist ein einziger Albtraum. Ich frage mich jeden Tag, warum ich hier drin sitzen muss und nicht bei meinem Kind sein kann.

Das Regionalgericht Berner Oberland in Thun hat Sie zu 16 Jahren Haft verurteilt. Für die Richter ist es erwiesen, dass Sie Ihren Mann getötet haben.
Ich habe meinen Mann nicht getötet. Ich habe ihn geliebt. Er und mein Sohn waren die wichtigsten Menschen in meinem Leben, bevor dieser Horror begann.

Wer bezahlt das alles?

Viviane Obenauf Tagliavini wurde erstinstanzlich nicht nur zu 16 Jahren Haft und zwölf Jahren Landesverweis verurteilt. Sie muss auch die Verfahrenskosten von 114'000 Franken bezahlen, dazu 6000 Franken Genugtuung für die Schwester des Opfers. Dazu kommen für sie die Anwaltshonorare. Dieses Geld hat sie nicht. Wer bezahlt das alles? Vorderhand der Staat. Wird sie freigesprochen, wird das alles nochmals neu bewertet. Sie muss dann sicher keine Kosten tragen und kann auf Schadenersatz klagen. Wenn sie nicht freikommt, bleibt sie diese Beträge dem Staat schuldig.

Viviane Obenauf Tagliavini wurde erstinstanzlich nicht nur zu 16 Jahren Haft und zwölf Jahren Landesverweis verurteilt. Sie muss auch die Verfahrenskosten von 114'000 Franken bezahlen, dazu 6000 Franken Genugtuung für die Schwester des Opfers. Dazu kommen für sie die Anwaltshonorare. Dieses Geld hat sie nicht. Wer bezahlt das alles? Vorderhand der Staat. Wird sie freigesprochen, wird das alles nochmals neu bewertet. Sie muss dann sicher keine Kosten tragen und kann auf Schadenersatz klagen. Wenn sie nicht freikommt, bleibt sie diese Beträge dem Staat schuldig.

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Die Staatsanwaltschaft hat zwei Jahre lang ermittelt und das Richtergremium am Ende von Ihrer Schuld überzeugt.
Ja, das war ein gutes Zusammenspiel der beiden Parteien. Aber unsere Verteidigungs-Argumente wurden nicht ernst genug genommen. Ich war für die doch vom ersten Tag an die perfekte Täterin.

Wie meinen Sie das?
Ich bin gebürtige Brasilianerin, eine Latina, die in die Schweiz gekommen ist, um ihr Glück zu finden. Und ich heirate einen 27 Jahre älteren Mann, ist doch klar, was alle denken.

Nein, was?
Dass ich mir einen «Sugar Daddy» geschnappt hätte. Zudem bin ich Boxerin und mein Mann wurde erschlagen. Für viele reichte das schon aus, um mich vorzuverurteilen.

Vielleicht den Menschen auf der Strasse, aber doch niemals einem Schweizer Gericht.
Das ist alles sehr verwirrend. Es gab keinen einzigen direkten Beweis für meine Schuld. Die ganze Argumentation der Staatsanwaltschaft war auf Indizien gebaut. Am Ende sollen diese ein Puzzle ergeben haben. Und obwohl Puzzleteile fehlten, soll ein schlüssiges Bild erkennbar gewesen sein, welches schliesslich zu meiner Verurteilung führte. Dieses Gericht brauchte einen Täter, der Druck in der Region war zu gross. Dieser spektakuläre Fall durfte nicht ungelöst bleiben. Aber nicht mit mir. Ich werde für die Wahrheit kämpfen.

Viviane Obenauf Tagliavini kramt in den Unterlagen, die sie mitgebracht hat. Minutiös hat sie alle Vernehmungsprotokolle studiert, geheftet und sie mit persönlichen Notizen versehen, die auf Ungereimtheiten hindeuten sollen. Und immer wieder steht da die Frage: «Warum sollte ich das gemacht haben?» Sie hat die ganze Dokumentation dem leitenden Richter in Thun zugestellt. Seitenlang hat sie sich erklärt. Und ihn mehrmals schriftlich gebeten, sie aus der Untersuchungshaft freizulassen, damit sie sich um ihr Kind kümmern kann. «Sie können mir Fussfesseln anlegen oder mich 24 Stunden bewachen lassen, aber ich muss zu meinem Sohn.» Das wurde alles abgelehnt und Obenauf Tagliavini darauf hingewiesen, dass sie nur über Ihren Anwalt kommunizieren darf und nicht direkt.

Auffallend in den Vernehmungsprotokollen ist, dass es mehrere Aussagen von Menschen gibt, die sie stark belasten. Und kein gutes Bild von Ihnen zeigen. Wenn das alles nicht wahr ist, warum sollten diese Menschen Ihnen Böses wollen?
Fakt ist, dass ich diesen Menschen in irgendeiner Weise nicht passte. Der eine ist ein Garagist, dem mein Ton nicht passte, als ich einmal reklamiert habe. Er gab zu Protokoll, er habe in der Tatnacht mein Auto am Ton erkannt. Und da gibt es zwei Ex-Freunde, welche unsere Trennung nicht verdaut haben. Ich weiss nicht, warum sie schlecht über mich redeten. Für mich ist diese Frage viel wichtiger: Warum wurden beide nicht gefragt, wo sie zur Tatzeit gewesen sind? Ist doch sonderbar, dass von den Ermittlern offenbar gar nie ernsthaft eine andere Täterschaft in Betracht gezogen wurde.

An wen denken Sie?
Es gab Leute, die in der Tatnacht um das Haus schlichen. Schlägertypen mit holländischem Auto-Kennzeichen. Das haben Anwohner zu Protokoll gegeben. Es gab oft Drohungen und Beleidigungen gegen meinen Mann, der offenbar Leute in seinem Lokal unfein behandelt hatte. Ihm wurde auch Rassismus unterstellt. Es gab sogar eine Anklage von Gästen, die er eigenhändig aus dem Lokal warf. Zudem gab es manchmal Streit mit Mitarbeitern. Er hatte schon Feinde. Und ich habe in Interlaken viele Neider, die nicht verstehen wollten, warum wir zusammen waren.

Erklären Sie es uns.
Es ging nie um Geld. Es ging um Liebe. Uns war völlig egal, was die Leute redeten. Wir waren ein gutes Team. Jemand gab bei den Ermittlungen zu Protokoll, dass er meinen Mann, seit er mit mir zusammen war, noch nie so happy und verliebt gesehen habe.

Ein wichtiges Indiz für das Gericht war die Tatwaffe, der Baseballschläger, der Ihnen gehört. Da haben Sie sich in Befragungen widersprochen.
Dieser Baseballschläger war im Schrank bei meinem Mann zu Hause. Der oder die Täter müssen die Wohnung auseinandergenommen haben und so den Baseballschläger entdeckt haben. Stellen Sie sich diesen Moment vor.

Welchen Moment?
Den, als ich am Morgen in die Wohnung kam und meinen Mann da regungslos und blutüberströmt am Boden liegen sah. Ich stürzte mich auf ihn, wollte ihn aufwecken. Was in diesem Moment mit dem Baseballschläger genau passierte, weiss ich nicht mehr. Ich war in totalem Schockzustand. Es ist möglich, dass ich den Baseballschläger in die Hand genommen habe. Keine Ahnung. Dass da Blut drauf war, habe ich nicht gesehen. Ich konnte in diesem Moment nicht rational denken. Ich bin zusammengebrochen. Und überhaupt: Warum ist das mit den Faustschlägen nicht wichtig?

Was ist damit?
Die Untersuchungen an der Leiche ergaben, dass es neben den Stockschlägen auch Spuren von Faustschlägen gegeben hat. Ich habe die Leiche gesehen. Mein Mann wurde verprügelt. Die Forensiker haben sofort meine Hände untersucht und keinerlei Spuren gefunden. Genauso wenig, wie sie Blutspuren in meinem Auto oder in meiner Wohnung gefunden haben. Ich soll also nach der Tat blutverschmiert nach Hause gefahren sein und im Auto keinerlei Spuren hinterlassen haben? Also bitte. Ich verstehe nicht, warum das alles bei der Beurteilung keine Rolle gespielt hat.

Als das Urteil verkündet wurde, nahmen Sie dieses mit geschlossenen Augen zur Kenntnis. Was ist Ihnen in diesem Moment durch den Kopf gegangen?
Ich war fassungslos und schockiert, dass es in der Schweiz möglich ist, jemanden ohne direkte Beweise zu verurteilen. Hier geht es doch nicht um einen leichten Diebstahl, es geht um eine Existenz, um 16 Jahre Gefängnis. Wie kann das sein?

Sie haben also mit einem Freispruch gerechnet?
Trotz allen Vorbehalten gegen die Ermittlungen war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich am 9. Dezember 2022 als freier Mensch aus dem Gerichtssaal in Thun laufen werde und danach meinen Sohn in die Arme schliessen kann.

Es kam anders.
Ja, das war ein böser Rückschlag, aber nur die erste Runde. Ich kämpfe weiter. Nach dem Urteilsspruch schloss ich die Augen und betete ein Vaterunser. Danach war mein letzter konkreter Gedanke in diesem Raum: «Mit mir nicht!»

Der Fall

22. Januar 2020: Viviane Obenauf Tagliavini heiratet zum zweiten Mal.
19. Oktober 2020: Ihr Mann (†61) wird in Interlaken tot aufgefunden.
9. November 2020: Viviane Obenauf Tagliavini kommt in Bern in U-Haft.
31. März 2021: Der Vater von Viviane stirbt nach einem Sturz. Ihr Anwalt überbringt die Nachricht im Gefängnis.
1. April 2021: Viviane kann in U-Haft zum ersten Mal nach der Verhaftung mit ihrer Familie in Brasilien telefonieren.
9. Dezember 2022: Obenauf Tagliavini wird erstinstanzlich schuldig gesprochen. Das Urteil: 16 Jahre Haft. Danach 12 Jahre Landesverweis.
14. Dezember 2022: Obenauf wird von Bern nach Luzern in die JVA Grosshof Kriens verlegt. Sie sitzt dort wegen Fluchtgefahr in Sicherheitshaft. Solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, gilt für sie die Unschuldsvermutung.

22. Januar 2020: Viviane Obenauf Tagliavini heiratet zum zweiten Mal.
19. Oktober 2020: Ihr Mann (†61) wird in Interlaken tot aufgefunden.
9. November 2020: Viviane Obenauf Tagliavini kommt in Bern in U-Haft.
31. März 2021: Der Vater von Viviane stirbt nach einem Sturz. Ihr Anwalt überbringt die Nachricht im Gefängnis.
1. April 2021: Viviane kann in U-Haft zum ersten Mal nach der Verhaftung mit ihrer Familie in Brasilien telefonieren.
9. Dezember 2022: Obenauf Tagliavini wird erstinstanzlich schuldig gesprochen. Das Urteil: 16 Jahre Haft. Danach 12 Jahre Landesverweis.
14. Dezember 2022: Obenauf wird von Bern nach Luzern in die JVA Grosshof Kriens verlegt. Sie sitzt dort wegen Fluchtgefahr in Sicherheitshaft. Solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, gilt für sie die Unschuldsvermutung.

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Ihr Anwalt hat das Urteil an die nächste Instanz weitergezogen, an das Obergericht. Warum sollte dieses zu einem anderen Schluss kommen?
Weil wir neue Fakten haben und ich davon ausgehe, dass dieses Mal die Ermittlungen anders laufen: fairer, ausgewogener, weitreichender. Es muss doch Gerechtigkeit geben.

Bis das Urteil rechtskräftig wird, gilt für Sie die Unschuldsvermutung. Trotzdem müssen Sie in Sicherheitshaft bleiben. Die Begründung ist Fluchtgefahr.
Warum sollte ich flüchten? Nach Brasilien? Nein, ich habe ein reines Gewissen und nichts zu verbergen. Mein Leben ist hier in der Schweiz und ich will es zurück. Gott gibt mir die Kraft und die Zuversicht, dass alles gut wird.

Nach dem Urteil wurden Sie vom Regionalgefängnis Bern hierher nach Kriens verlegt. Hat sich dadurch etwas verändert?
Alles. Hier werde ich wie ein Mensch behandelt, in Bern war das nicht der Fall.

Können Sie das verdeutlichen?
Ich war 25 Monate in Einzelhaft. 22 Stunden am Tag war ich isoliert, auf mich allein gestellt. Ich konnte nicht einmal ein Fenster öffnen. Es gab niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Ich war in dieser ganzen Zeit dreimal im Hof. Mein Sohn durfte mich nur hinter einer Glasscheibe besuchen, mit meiner Familie in Brasilien durfte ich nicht telefonieren. Diese Zeit hat mich zermürbt, aber nicht zum Aufgeben gezwungen.

Was meinen Sie mit «Aufgeben»?
Ich wurde immer wieder verhört. Die Verhöre dauerten vier bis sechs Stunden, es war eine Marter. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft wollten unbedingt ein Geständnis von mir. Sie sagten immer wieder, dass ich dann an einen besseren Ort kommen würde. Ich kann aber nichts gestehen, was ich nicht getan habe. Ich habe Schreie von verzweifelten Gefangenen gehört. Es soll einige geben, die tatsächlich gestehen, nur um wegzukommen von diesem schrecklichen Ort. Aber das Schlimmste kam für mich erst noch.

Erzählen Sie.
Ein paar Monate nach der Verhaftung kam mich mein Anwalt mit einer schlechten Nachricht besuchen. Mein Vater war zu Hause gestürzt und ist an Kopfverletzungen gestorben. Ich konnte es fast nicht ertragen, dass ich im Gefängnis sitzen musste und nichts tun konnte. Wenigstens durfte ich danach erstmals mit meiner Mutter und meiner Schwester telefonieren. Ich brauchte lange, um mich von diesem Schlag zu erholen und es gab Nächte, in denen ich keinen Sinn mehr darin sah, weiterzuleben.

Viviane Obenauf Tagliavini ist am 25. Oktober 1986 in Rio de Janeiro geboren und rund 180 Kilometer nördlich, in Juiz de Fora, gross geworden. Ihr Vater ist streng, lässt ihr kaum Freiheiten. Ein Militär und Disziplinfanatiker. Die drei Kinder müssen sich frühmorgens mit kaltem Wasser waschen, dann stehen Liegestütze auf dem Programm. Spielen müssen sie hinter hohen Mauern, weil davor die Kriminalität herrscht. Alles viel zu gefährlich. Für die beiden Schwestern gilt: keine Männer, kein Sex. Dafür Sitte und Ordnung. Viviane reisst ein paar Mal aus, wird aber stets wieder eingefangen. Sie ist eine gute Fussballerin und Läuferin. Später hat sie einen Boss, einen Italiener, der Casinos, Restaurants, Kliniken betreibt. Sie ist seine Assistentin. Er glaubt an sie, schenkt ihr ein Flugticket nach Europa, sie solle die Welt kennenlernen. Viviane, inzwischen 21-jährig, lernt an einer Party in der Schweiz einen Mann kennen. Die beiden verlieben sich, heiraten. Zwei Jahre später kommt ihr gemeinsamer Sohn zur Welt. Doch die Liebe hält nicht. Mit ihrem Sohn lässt sich nun als alleinerziehende Mutter am Brienzersee nieder und startet ihre Boxkarriere. 2011 wird sie Schweizermeisterin, 2014 wechselt sie zu den Profis, 2018 krönt sie sich zur Weltmeisterin. Anfang 2020 heiratet sie zum zweiten Mal. Dann kommt der 19. Oktober 2020. Der Tag, an dem die Zeit stillsteht, nichts mehr ist, wie es einmal war, alles schwarz wird.

Wie reagiert Ihre Familie in Brasilien auf diese Geschichte?
Sie wissen, dass das alles nicht sein kann, und können nachvollziehen, was ich durchmache.

Es gibt dieses Polaroid-Foto. Das einzige aktuelle Foto von Ihnen aus dem Gefängnis. Sie stehen vor einem Tannenbaum und strahlen. Können Sie uns darüber etwas sagen?
Das war am 16. Dezember 2022, rund eine Woche nach der Urteilsverkündung und zwei Tage nach meiner Verlegung von Bern nach Kriens. Wir feierten im Gefängnis Weihnachten. Die Küche zauberte ein himmlisches Menü. Als Hauptspeise gab es Kalbssteak an Balsamico-Jus mit Tannenzapfen-Kroketten und Gemüse. Es war ein Seelsorger dabei, der mit uns ass. Es gab Livemusik, einen Saxophonisten. Und ich war richtig glücklich.

Glücklich, obwohl sie gerade schuldig gesprochen wurden?
Ja, weil ich wieder Mensch sein konnte. Weil ich dieser Hölle an der Genfergasse 22 in Bern entkommen bin. Und es meiner Schulter wieder besser ging.

Was war mit Ihrer Schulter?
Meine Schulter spielte in den Ermittlungen eine grosse Rolle. Ich war schon länger in Behandlung, kriegte Kortisonspritzen gegen die Schmerzen, war in Therapie und krankgeschrieben. Das wurde dann bei den Ermittlungen so ausgelegt, dass ich simulieren würde.

Was hat das mit dem Fall zu tun?
Man warf mir vor, ich hätte mich nur krankschreiben lassen, damit ich nicht mehr bei meinem Mann im Lokal arbeiten müsse. Diese Unterstellung galt dann zugleich als Indiz, dass wir beide Streit gehabt hätten, was nicht stimmte. Zudem unterstellte man mir, ich hätte das mit der Verletzung genau so geplant, um nach der Tat ein Alibi zu haben. Mit einem Arm in der Schlinge und dieser Verletzung hätte ich ja den Baseballschläger nicht schwingen können.

Was war das für eine Verletzung?
Ich litt unter einer entzündlichen Erkrankung der Schultergelenkkapsel – eine sogenannte «Frozen Shoulder». Auch mein Bizeps war stark beeinträchtigt. Eine Verletzung, die mit grossen Schmerzen verbunden war. Dass ich ärztliche Gutachten und Röntgenbilder vom Insel-Spital vorlegen konnte, dass ich deswegen in Therapie war und nicht mehr boxen konnte, darüber wurde in den Ermittlungen offenbar einfach hinweggeschaut.

Das ist für mich schwer nachvollziehbar.
Als ich im November 2020 in Bern in U-Haft kam, meldete ich gleich am ersten Tag an, dass ich Schmerzen in der Schulter hätte. Ich wurde in dieser Sache unfassbar lange ignoriert. Erst nach 16 Monaten wurde ich endlich operiert, weil es nicht mehr anders ging. Ich konnte nicht mal mehr den Teller hochheben. Inzwischen ist die Schulter wieder einigermassen in Ordnung. Aber zur Ruhe komme ich nicht.

Was treibt Sie um?
Seit der Urteilsverkündung am 9. Dezember habe ich von meinem Sohn, der bei seinem Vater wohnt, nichts mehr gehört und ihn nicht mehr gesehen. Das ist mein grösster Schmerz. Er wird bald zwölf Jahre alt. Ich möchte ihn umarmen und ihm sagen, dass ich kein böses Mami bin. Ich hoffe, er weiss das. Aber es ist bestimmt schwierig für ihn. Umso mehr schöpfe ich Kraft, um das durchzustehen und für uns zu kämpfen.

Stellen Sie sich manchmal vor, wie es sein wird, wenn sie tatsächlich 16 Jahre absitzen müssen und dann als 50-jährige Frau aus dem Gefängnis kommen?
Nein, das stelle ich mir nicht vor. Die Zukunft gehört uns nicht. Wir können nicht wissen, was passiert. Ich konzentriere mich auf die Gegenwart und versuche jede Stunde sinnvoll zu nutzen. Anders geht es gar nicht, ich würde sonst verzweifeln.

Was ist Ihre grösste Angst?
Dass ich meinen Sohn nicht aufwachsen sehen kann.

Was ist Ihre grösste Hoffnung?
Dass dieser Albtraum bald vorbei sein wird.

Zum Frauen-Trakt in der JVA Grosshof gehört ein Spazierhof. Der einzige Ort, wo die gefangenen Frauen frische Luft schnappen können. Er ist umrahmt von hohen Betonmauern mit Stacheldraht. Interessanterweise wird dieser Hof gar nicht so oft und gern benutzt. Vielleicht, weil sich da draussen unter dem Himmel die Sehnsucht nach Freiheit unerträglich wird. Viviane Obenauf Tagliavini sagt dazu: «Wenn man da draussen steht, kleingemacht von diesen hohen Betonwänden und dem Stacheldraht, ist das einfach zu bedrückend. Darum gehen ich da nicht gern raus.»

Nach exakt zwei Stunden öffnet sich die eine Tür im Besucherraum. Viviane muss zurück zu den anderen Frauen. Ihre Bitte, die Besuchszeit um zwei Minuten zu verlängern, wird abgelehnt. Vor dem Abschied einigen wir uns, dass ich sie mit vollem Namen nennen soll und ihr Gesicht auf den Fotos nicht mit einem schwarzen Balken abdecken muss. Viviane Obenauf Tagliavini wiederholt: «Ich habe nichts zu verbergen.»

Nachdem sie hinter der Tür verschwunden und diese wieder verschlossen ist, öffnet sich die zweite Tür auf der anderen Seite des Raumes. Ich gehe durch die Sicherheitsschleuse, hole meine Jacke und persönlichen Sachen im Warteraum für Besucher, bekomme am Schalter meinen Ausweis zurück und trete ins Freie. Ich atme tief durch. Es regnet in Strömen. Pilatus und Rigi sind bedeckt. Ein nassgrauer Sonntag.

Wie es jetzt weitergeht

Obenauf Tagliavinis Anwalt Rouven Brigger hat Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil angemeldet und wartet nun auf die schriftliche Urteilsbegründung. Das kann zwischen drei und fünf Monate dauern. Dann wird er die Berufung aufgrund dieses schriftlichen Urteils begründen und der ganze Fall landet beim Obergericht. Dieses stützt sich zwar auf die bisherigen Ermittlungen, kann aber beispielsweise neue Beweisanträge oder Zeugenvernehmungen bewilligen. Das Urteil des Obergerichts wird wohl frühestens im Spätsommer oder im Herbst 2023 gefällt. Wird Viviane Obenauf Tagliavini auch in zweiter Instanz schuldig gesprochen, bleibt der Verteidigung als letzte Chance noch der Gang vors Bundesgericht.

Obenauf Tagliavinis Anwalt Rouven Brigger hat Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil angemeldet und wartet nun auf die schriftliche Urteilsbegründung. Das kann zwischen drei und fünf Monate dauern. Dann wird er die Berufung aufgrund dieses schriftlichen Urteils begründen und der ganze Fall landet beim Obergericht. Dieses stützt sich zwar auf die bisherigen Ermittlungen, kann aber beispielsweise neue Beweisanträge oder Zeugenvernehmungen bewilligen. Das Urteil des Obergerichts wird wohl frühestens im Spätsommer oder im Herbst 2023 gefällt. Wird Viviane Obenauf Tagliavini auch in zweiter Instanz schuldig gesprochen, bleibt der Verteidigung als letzte Chance noch der Gang vors Bundesgericht.

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